Bundestag billigt neuen EU-Vertrag: Ja zur kleinen EU-Verfassung
Donnerstag stimmte der Bundestag dem Lissabon-Vertrag zu - in dem Wissen, dass er die "zweitbeste Lösung" ist. Linke und Rechte wettern gegen die neue EU.
Was ist der Vertrag von Lissabon? Der Vertrag von Lissabon soll Europa demokratischer und effizienter machen. Er ersetzt die EU-Verfassung und tritt am 1. Januar 2009 in Kraft - wenn ihn die 27 Mitgliedstaaten ratifizieren. Bereits zugestimmt haben: Polen, Bulgarien, Frankreich, Malta, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Ungarn - und seit gestern Deutschland und Dänemark. Noch nicht ratifiziert: Belgien, Estland, Finnland, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden, Spanien, Tschechische Republik, Großbritannien, Zypern.
Starker EU-Ratspräsident: Die EU hat künftig einen Ratspräsidenten, dessen Amtszeit zweieinhalb Jahre beträgt statt wie bisher sechs Monate. Als Kandidat ist der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker im Gespräch.
Der "Außenminister" der EU: Die EU bekommt einen "Hohen Repräsentanten der Union für Außen- und Sicherheitspolitik". Er darf mit Rücksicht auf Großbritannien nicht "Außenminister" heißen. Den Posten dürfte der bisherige EU-Außenbeauftragte Javier Solana übernehmen.
Mehrheitsentscheidungen: EU-Beschlüsse werden erleichtert, der Zwang zur Einstimmigkeit entfällt in vielen Fällen. Die Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit werden auf mehrere Dutzend neue Bereiche ausgedehnt - etwa bei der polizeilichen und der Justiz-Zusammenarbeit. In der Außen-, Steuer- und Sozialpolitik gilt weiter das Prinzip Einstimmigkeit.
Parlamentsmitsprache: Das Europaparlament erhält erstmals ein Mitspracherecht in den wichtigen Fragen der Justizzusammenarbeit, der inneren Sicherheit und der illegalen Einwanderung. Zudem muss die EU-Kommission künftig ihre Gesetzesvorschläge überprüfen, wenn dies mehr als die Hälfte der nationalen Parlamente verlangt.
Bürgerbegehren und -rechte: Mit einer Million Unterschriften können Bürgerinitiativen künftig die EU-Kommission auffordern, Gesetzesvorschläge zu machen. Der Reformvertrag macht zudem die europäische Grundrechtecharta rechtsverbindlich. Die Charta hält in 54 Artikeln alle europäischen Bürgerrechte fest.
EU-Kommission kleiner: Die EU-Kommission wird verkleinert. Von 2014 an sind in Brüssel nicht mehr alle, sondern wechselweise nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten mit einem Kommissar vertreten.
Plötzlich wurde es noch mal richtig aufregend und laut. Am Donnerstagvormittag sollte der Bundestag den Lissabon-Vertrag verabschieden, das ist so etwas wie die abgespeckte Variante der EU-Verfassung. Niemand hatte mit größerem Widerspruch gerechnet. Doch plötzlich wetterte der ehemalige Unions-Rechtsaußen Harry Nitzsche los.
Der Vertrag sei ein "neues Ermächtigungsgesetz" sagte Nitzsche, ein aus der Unionsfraktion ausgeschlossener Abgeordneter. So wollte er das Vertragswerk mit der Beseitigung der Demokratie durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 auf eine Stufe stellen. Das Parlament protestierte genau wie Präsidentin Susanne Kastner, die Nitzsches Aussagen undemokratisch nannte.
So weit wie Nitzsche wollte Lothar Bisky nicht gehen. Aber auch er machte mit markigen Worten gegen den Vertrag mobil. Die EU leiste "Beihilfe zum Sozialdumping, sagte der Parteichef der Linken. Er verpflichte die Mitgliedstaaten der EU zu "ständiger Aufrüstung" und sei eine Ermutigung zu militärischen Interventionen.
Die 515 Abgeordneten, die zustimmten, waren sich in ihrem Lob recht einig. Europa werde stärker (Angela Merkel), Europa bekomme mehr Bürgerrechte (Kurt Beck), Europa werde "demokratischer" (Jürgen Trittin), hieß es. Am nächsten war vielleicht FDP-Chef Guido Westerwelle dran. Er sagte mit Blick auf die gescheiterte Verfassung: "Wenn man das Beste nicht erreichen kann", müsse man das "Zweitbeste machen".
In der Tat wurde statt einer lesbaren, bürgernahen Verfassung lediglich ein "Änderungsvertrag" zum Nizzavertrag beschlossen, den selbst Experten kaum verstehen. Er wurde in langen Gipfelnächten hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Auch die größten Europa-Enthusiasten wollen von dem Thema nichts mehr hören. Und da die irische Verfassung ein Referendum zwingend vorschreibt, könnte nach einem negativen Votum der irischen Bürger am 12. Juni alles doch wieder von vorn beginnen.
Stimmen die Iren mit Ja, kommt die EU künftig zumindest in ihren Alltagsgeschäft rascher voran. Einstimmigkeit ist dann nur noch in wenigen Politikbereichen wie der Außenpolitik, der Steuer- und Sozialpolitik erforderlich. Die qualifizierte Mehrheit wird zur Regel. Sie wurde bislang nach einem unübersichtlichen System errechnet, das jedem Staat eine bestimmte Zahl an Stimmen zuwies. Künftig gilt sie als erreicht, wenn 55 Prozent der Staaten zustimmen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Dieses Prinzip wird allerdings erst ab 2014 angewandt.
Die nationalen Parlamente sollen in Zukunft mehr in die Brüsseler Gesetzgebung einbezogen werden. Sie können prüfen lassen, ob die EU-Kommission ihre Kompetenzen überschreitet und zu sehr in nationale Zuständigkeiten eingreift. In der Kommission wird nicht länger jedes Mitgliedsland vertreten sein. Ab 2014 werden rotierend jeweils zwei Drittel der Mitglieder einen Kommissar nach Brüssel entsenden. Schon jetzt wird darüber spekuliert, ob große Länder wie Deutschland oder Frankreich den Verzicht auf diese wichtige Einflussmöglichkeit klaglos hinnehmen werden.
Auch andere spannende Personaldebatten stehen ins Haus. Nach der Europawahl im Juni 2009 wird der Kommissionspräsident von der Mehrheit des EU-Parlaments gewählt. Der portugiesische Konservative Manuel Barroso macht sich Hoffnung auf eine zweite Amtszeit. Im Gegenzug werden die Osteuropäer ebenfalls einen prestigeträchtigen Posten verlangen. Dafür ist der ehemalige polnische Regierungschef Jerzy Buzek im Gespräch, der aber ebenfalls den Konservativen angehört. Auch Jean-Claude Juncker, der Favorit für das Amt des Ratspräsidenten, ist Christdemokrat. Die Sozialisten werden dieses Paket nicht akzeptieren. Außerdem wächst die Zahl derer, die wenigstens eine Frau in der europäischen Führungsspitze sehen wollen.
Zwar wandert der Ratsvorsitz - anders als in der Verfassung vorgesehen - weiter alle sechs Monate in ein anderes Mitgliedsland. Doch parallel dazu wird der Ratspräsident für zweieinhalb Jahre die EU nach außen vertreten. Seine Jobbeschreibung ist bislang vage. Ob er nur repräsentative Aufgaben hat oder künftig das politische Programm der Union vorgibt und damit die rotierende Ratspräsidentschaft an Einfluss übertrumpft, ist noch völlig offen. Offizielle Bewerber für den Posten gibt es noch nicht. Aussichtsreiche Kandidaten wie der Luxemburger Premier Juncker warten wohl ab, ob es sich lohnt, für den Job in Brüssel das heimische Amt aufzugeben.
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