Bürgerrechtler Jens Reich über 1989: "Die SED zersplitterte die Opposition"
Vor 20 Jahren ging die Bürgerbewegung bei den Volkskammerwahlen unter. Der Bürgerrechtler Jens Reich meint: Was folgte, war eine westdeutsche Wahl im Osten.
taz: Herr Reich, am 18. März 1990 fand die erste und letzte freie, demokratische Wahl der DDR statt. War diese Wahl fair?
Jens Reich: Wenn man Wahlen heutzutage zum Maßstab nimmt - nein. Die Mittel waren ja extrem ungleich verteilt. Die "Allianz für Deutschland" wurde massiv von West-CDU-Politikern und mit Geld unterstützt. Die SED/PDS verfügte über Geld und einen Apparat. Bündnis 90 hatte nichts davon: keine Logistik, kein Geld, keine Redenschreiber, weniger Zugang zu Medien. Es war eine westdeutsche Wahl auf dem Gebiet der DDR.
Margaret Thatcher hat danach Helmut Kohl zu seinem Wahlsieg gratuliert - obwohl nicht Kohl, sondern Lothar de Maizière zur Wahl stand …
Das zeigt einen feinen britischen Sinn für Ironie.
Welche Rolle spielte Kohls Ankündigung im Februar, die Währungsunion schnell einzuführen, und zwar im Umtauschverhältnis eins zu eins?
wurde am 26. März 1939 in Göttingen geboren. Er studierte Medizin und Molekularbiologie an der Humboldt-Universität in Berlin. 1970 gründete er einen "Freitagskreis", der sich kritisch mit dem DDR-Regime auseinandersetzte. Im September 1989 war der Professor für Biomathematik einer der Erstunterzeichner des Aufrufs "Aufbruch 89", der zur Gründung des Neuen Forums führte. Nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 war er Abgeordneter der einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 2001 bis 2008 war der 2004 Emeritierte Mitglied des Nationalen Ethikrates. Er ist auch Mitglied in dem Nachfolgegremium, dem Deutschen Ethikrat.
Das war ein attraktives Angebot, dass ein Großteil der DDR-Bevölkerung nicht ablehnen konnte.
War Kohl denn wirklich die treibende Kraft - oder eher ein Getriebener, der tat, was das DDR-Volk wollte?
Die Parole "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr" war eine Erfindung des DDR-Volks. Und sie drückte präzise aus, was viele DDR-Bürger nach den Entbehrungen des Realsozialismus wollten. Kohl hat dem einfach nachgegeben. Er hat der Erpressung "entweder Währungsunion sofort, oder wir gehen in den Westen" nichts entgegengesetzt. Das wäre durchaus möglich gewesen. Stattdessen hat Kohl, gegen den Widerstand der Bundesbank und vieler Ökonomen, den Umtausch eins zu eins durchgesetzt. Das war keine Zwangsläufigkeit, sondern eine politische Entscheidung.
Das Argument der Kohl-Anhänger lautet: Es gab keine Alternative.
Dieser Satz stimmt historisch nie. Der Determinismus, demzufolge es immer genau so kommen musste, wie es kam, hat etwas Armseliges. Es gibt immer Entscheidungsspielräume.
Im Frühjahr 1990 brach die DDR-Wirtschaft zusammen, die DDR-Bürger gingen in den Westen. Außerdem war die deutsche Einheit nur in diesem Moment möglich. Stimmt das nicht?
Man muss differenziert hinschauen. Richtig ist, dass höchst fraglich war, wie lange die Zustimmung aller alliierten Mächte zur Vereinigung halten würde. Gorbatschow saß ja damals auf dem Schleudersitz. Außenpolitisch gab es Gefahren, die eine schnelle Einigung dringlich machten. Aber warum musste deswegen innenpolitisch mit der Brechstange gearbeitet werden? Das Zusammenwachsen der beiden sehr verschiedenen Strukturen wäre klüger und weniger hektisch möglich gewesen.
Der Verlierer der Volkskammerwahl war Bündnis 90, das nur knapp drei Prozent bekam. Eigentlich war der 18. März 1990 das Ende der Bürgerbewegung - oder?
Ja, obwohl es auch nach dieser Niederlage weiterging. Es folgten ja harte Auseinandersetzungen um die Stasi-Akten, und es gab in der Provinz der Republik weiterhin Runde Tische. Bis weit in die Vereinigung im Herbst 1990 hinein existierten solche Formen spontaner Basisdemokratie neben den offiziellen Strukturen. Allerdings hatten wir auf den Einigungsvertrag nach dieser Wahl so gut wie keinen Einfluss.
Hatte die Bürgerbewegung Mitschuld an ihrem Untergang - oder wurde sie einfach von der Vereinigungseuphorie hinweggespült?
Der Aufstand im Herbst 1989 war spontan. Es ist kein Wunder, dass Bündnis 90 drei Monate später im parteipolitischen Sinne keine professionelle Organisation war. Die Gruppen haben sich auch gegenseitig gelähmt und neutralisiert. Es gab bei uns niemand, der organisiert mit einem tragfähigen politischen Programm die Macht erobern wollte. Den konnte es nicht geben - er wäre von der Basis nicht akzeptiert worden.
Sie waren naiv?
Ja, das können Sie gerne unprofessionell nennen. Ich fand es nicht unsympathisch. Wir wollten eben die Macht nicht an die Parteiapparate delegieren.
Die Bürgerbewegung trat aber auch zersplittert an. Manche zusammen mit der Ost-CDU im "Demokratischen Aufbruch", manche bei Bündnis 90, manche in der SPD, manche bei kleinen linken Gruppen. In der Tschechoslowakei oder in Polen trat die Bürgerbewegung gemeinsam an. Warum nicht in der DDR?
Weil die Bewegung auch vor 1990 schon so zersplittert war. Das war der Erfolg von Honeckers Strategie. Die SED konnte die Opposition nicht zerschlagen, aber, zum Beispiel mit der Stasi, zersplittern. Wir hatten deshalb keine Zeit, uns auf das Kommende vorzubereiten. Die Französische Revolution wurde von den Enzyklopädisten theoretisch vorbereitet. In der DDR wurden - siehe Rudolf Bahro - solche Köpfe einfach in den Westen abgeschoben.
Also gab es den polnischen Weg, zusammen anzutreten, für die DDR-Opposition nicht?
Nein. Und man muss auch sehen, was aus den osteuropäischen Bürgerbewegungen wurde. Die Solidarnosc hat nach der Machtübernahme sehr ähnliche Zersplitterungstendenzen gezeigt. Als basisdemokratische Grassroot-Bewegung hat sie die Machtübernahme nicht überstanden. Der Unterschied war eben, dass Polen und Tschechen mit ihren dekonstruierten kommunistischen Eliten die Demokratie aufbauen mussten, während die DDR den Westen hatte. Das hatte nicht nur Nachteile. In Polen hat sich die Aufarbeitung der Vergangenheit sehr verzögert, was sich noch heute als Fehler erweist.
War der Sinn der Demokratiebewegung nur der Sturz des DDR-Regimes - und danach war sie überflüssig?
Was heißt nur? Wir hatten im Herbst 1989 eine Menge programmatische Ideen. Wir wollten Freiheit, die Demokratisierung der Wirtschaft, Reform der Bildung, das Ende der ökologischen Verantwortungslosigkeit und vieles mehr. Wir wollten also nicht nur das Alte abschaffen, sondern auch etwas Neues. Deshalb stimmt das "nur" nicht.
Und was ist heute davon noch geblieben?
Ich will meine Impressionen nicht überbewerten, aber ich glaube, dass es im Osten eine, wenn auch kleine, kritische Bürgerschicht gibt, die noch immer an grundlegender Demokratisierung interessiert ist. Die haben keinen Einfluss, keine Medienmacht, sie kommen gegen den Parteienstaat nicht an. Aber es gibt sie. Auch wenn in der aktuellen Wirtschaftskrise davon leider nicht viel zu merken ist, wacht dieser Bürgersinn, dieser Geist von 1848, vielleicht wieder auf. Das ist eine Möglichkeit.
Nach der Wahl formierte sich die erste und letzte demokratisch legitimierte Volkskammer. Was war das für ein Parlament? Ein, wie im Westen viele meinten, Laienspielhaus? Das Instrument, das die DDR abwickelte? Oder ein offenes, demokratisches Experimentierfeld?
Alles zusammen. Laienspielschar - das stimmt gemessen an den Kriterien von Professionalität, die in westlichen Parteien herrscht. Aber das ist nicht das Maß aller Dinge. Ich war als Volkskammerabgeordneter auch Laie, weil ich mit Dingen befasst war, die ich vorher nicht kannte. Und ich war der Ansicht, dass wir kein Parteienparlament brauchten - schön ordentlich in Regierungsfraktion und Opposition geteilt. Dazu war ich zu altmodisch.
Inwiefern?
Wir glaubten, wie die Revolutionäre 1848, an die freien Abgeordneten, die sich bei einzelnen Fragen zusammenschließen. Das halten viele für naiv. Ich empfinde das nicht als Schimpfwort.
Der SPD-Politiker und Theologe Richard Schröder meint, dass die Deutschen insgesamt zu skeptisch, zu desinteressiert auf 1989/90 schauen. Brauchen wir also eine freudigere, positivere Haltung zum Sturz der DDR-Diktatur?
Also ich freue mich jeden Tag, dass die DDR untergegangen ist. Ob wir generell einen positiveren Bezug auf 1989 und damit wohl auch zur Nationalgeschichte brauchen - da bin ich vorsichtig. Nein, ich bin nicht unzufrieden mit unserem Nationalbewusstsein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe