■ Buchtip: Liebesfreuden
Liebesfreuden im „finsteren“ Mittelalter? Wer dies für einen Antagonismus und die freie Liebe für eine Erfindung der Hippie-Ära hält, wird in dem Buch „Liebesfreuden im Mittelalter – Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten“ (Belser Verlag, Stuttgart, Zürich 1994, 78 DM) eines Besseren belehrt. Nicht nur Ovids „Liebeskunst“, Boccaccios „Decamerone“, der „Rosenroman“ des 13. Jahrhunderts und die Minnelieder zeugen davon, daß die Liebe schon damals das Gesprächsthema Nummer eins war. Im ersten Kapitel des reichlich und teilweise farbig bebilderten Buches nimmt uns die Kunstgeschichtlerin und Religionswissenschaftlerin Gabriele Barz auf eine Reise „mit Ovid durch das Reich der Venus im Mittelalter“. Reinlichkeit, die Kunst des Werbens, Liebessehnsucht, Liebesschmerz, berühmte Paare, käufliche Liebe sind die Themen.
Das zweite Kapitel, geschrieben von Alfred Karnein, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Literatur des Mittelalters an der Universität Frankfurt am Main, handelt von Andreas Capellanus, Autor eines Buches über Liebe und Sexualität, das damals wegen seiner Obszönität auf dem Index stand („Liebe ist ein angeborenes Leiden, ausgelöst durch den Anblick und die übermäßige gedankliche Beschäftigung mit dem Erscheinungsbild einer Person des anderen Geschlechts, was dazu führt, daß man mehr als alles andere wünscht, diese Person zu umarmen ...“).
Im dritten und interessantesten Teil des Buches befaßt sich Claudio Lange mit plastischem Kirchenschmuck als antiislamischem Propagandamittel. Der Autor, ein Dichter, Maler und promovierter Islamwissenschaftler chilenisch- deutscher Abstammung, reiste zwei Jahre lang durch Europa und sammelte Koffer voller Fotos von Kragsteinen, bebilderten Konsolen in romanischen Kirchen – darunter etliche gleichzeitig Cunnilingus und Fellatio praktizierende Liebespaare. Für den Autor war das mittelalterliche Europa die damalige Dritte Welt, der Orient dagegen vermögend, wissend und fortgeschritten. Als Kreuzritter langten die Hungernden nach dem Tisch der Reichen. Die Kreuzzüge waren ein Wirtschaftszweig, der die Arbeitslosen aus dem Land schaffte und Brot für viele versprach. Heute weiß man, daß es den orientalischen Christen in Jerusalem, die es zu retten galt, besserging als ihren Rettern. Sie prosperierten durch Handel und durften ihren Glauben unbehelligt ausüben. Die kirchliche Kunst sollte klare Feindbilder schaffen.
„... in ihnen [den Kragsteinen; d.V.] west, unterm Schein des Sexuellen, Anekdotischen, Grotesken oder auch Dekorativen, antiislamische Propaganda [...] Mit den Kragsteinen geht es der europäischen Kunstgeschichte so sehr an den Kragen, daß ihr das sogar den Hals kosten könnte. Sie schweigt daher dazu.“ So Claudio Lange. Er hat das Schweigen gebrochen.
Kermal Kurt
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