Buchmarkt in China: Lesehunger trotz wahlloser Verbote
Der chinesische Buchmarkt hat sich in den letzten 20 Jahren liberalisiert. Es gibt inzwischen private Buchhandlungen, aber noch keine unabhängigen Verlage. Zensur findet nachträglich statt.
PEKING taz Ein heißer Samstagnachmittag in Peking. Auf dem Tiananmen-Platz haben Gärtner Blumenschmuck für die Olympischen Spiele aufgestellt. Polizisten beobachten jeden Passanten genau, um Proteste zu verhindern.
Einige Straßen weiter westlich, versteckt zwischen mächtigen Bankhochhäusern und riesigen Einkaufspalästen, liegt eine Oase der Ruhe: der kleine, in einem traditionellen Pekinger Stadthaus untergebrachte Buchladen Sanwei. Die Olympischen Spiele scheinen hier weit weg.
Wie an jedem Wochenende, wenn Schriftsteller oder Philosophen über ihre Werke sprechen, sind die sechzig Stühle im Tee-Salon besetzt. Dieses Mal ist ein prominenter TV-Redakteur und Drehbuchautor, der 73-jährige Chen Hanyuan, zu Gast, um über seinen Kampf gegen Zensur und Bürokratie zu sprechen.
"Sanwei", was so viel heißt wie "Drei Geschmacksrichtungen", gehört zu den literarischen Institutionen Chinas: Seine Besitzer, ein älteres Ehepaar, eröffneten ihn im Mai 1988 als ersten privaten Buchladen der chinesischen Hauptstadt. Sie wollten einen Ort schaffen, in dem Kunden in aller Ruhe nach Literatur stöbern, neue Autoren und Themen entdecken können.
Heute ist solch ein Ort der Einkehr notwendiger denn je. So gründlich wie das ganze Land in den vergangenen zwanzig Jahren einem Wandel unterworfen wurde, ist auch in die Welt der Buchläden, Verlage und Autoren Bewegung gekommen. Private Buchhandlungen sind heute keine Seltenheit mehr. Zwar existiert die staatliche Kette Xinhua mit ihren einst trübsinnig gefüllten Buchregalen, die sich um unverkäufliche Werke Mao Zedongs gruppierten und deren grantige Verkäufer mehr Leser abschreckten als ermutigten, weiter. Doch auch ihre Filialen müssen nun wie kapitalistische Betriebe profitabel rechnen und Käufer anlocken.
Einige tun das mit großem Erfolg, wie sich an der riesigen Xinhua-Bücherstadt einige hundert Meter östlich des kleinen Sanwei-Ladens zeigt. Schon morgens stehen dort hunderte von lesehungrigen Pekingern und warten vor der Tür in einer Schlange. In den Verkaufsräumen auf mehreren Stockwerken sind mehr als 200.000 Bände im Angebot: von klassischen Werken über Ratgeberliteratur bis zu Gesundheitsfibeln und Science-Fiction-Romanen reicht das Sortiment.
Nur in den USA und Großbritannien werden mehr Bücher publiziert als in China. "Jeden Tag kommen 500 neue Titel hinzu", berichtet Jo Lusby, Vertreterin des großen britischen Verlagshauses Penguin in Peking. "Die Menge der Neuerscheinungen ist schier überwältigend." Dabei sind Autoren, die in China Stars sind, international oft so gut wie unbekannt.
Über allem wacht der strenge Vater Staat, besser, die Kulturbürokratie der Kommunistischen Partei. Peking hält die Kontrolle der Medien für zu wichtig, als dass Privatverlage oder ausländische Beteiligungen zugelassen würden. Alle 570 Verlagshäuser Chinas sind in staatlicher Hand. Nur diese Unternehmen dürfen Publikationsnummern vergeben, ohne die kein einziges chinesisches Buch legal im Geschäft verkauft werden kann.
Doch wie so oft im kapitalistisch-kommunistischen China klaffen Gesetz und Realität weit auseinander. Viele der alten Staatsverlage, die der rauen Konkurrenz der neuen Zeit nicht gewachsen sind, funktionieren mittlerweile nur noch als leere Hülle: Sie verkaufen ihre Publikationsnummern an Herausgeber weiter, die sich offiziell Medienagenturen oder Kulturstudios nennen, in Wahrheit aber sehr erfolgreiche und kreative Privatverlage sind. Brancheninsider schätzen, dass es inzwischen mehr als 5.000 solcher Verlagshäuser gibt, die auch mit internationalen Unternehmen wie Penguin und Bertelsmann kooperieren.
Offiziell ist die Allgemeine Verwaltung von Presse und Publikationen (GAPP), die dem Staatsrat untersteht, für die Zensur verantwortlich. Aber, so sagt Jo Lusby "die Zensoren können ja nicht mehrere hunderttausend Skripte pro Jahr lesen". Stattdessen stürzen scheinbar wahllose Verbote auf Verlage ein, nachdem ihre Bücher publiziert sind. Die Verlage müssen sie dann mühsam und teuer aus den Regalen räumen lassen und empfindliche Strafen bezahlen. Zuweilen verlieren sie auch ihre Lizenz. So funktioniert die Kontrolle vor allem als "Schere im Kopf" der Herausgeber und Autoren.
Zu den heiklen Themen gehören etwa kritische Schriften über wichtige Politiker, unheilvolle Kampagnen der Kommunistischen Partei oder die "drei Ts" - Tiananmen, Tibet und Taiwan.
Auch der ins Deutsche übersetzte "Bauernreport" der Autoren Chen Guidi und Wu Chuntao geriet in Ungnade. Das Buch war über Nacht in China zur Sensation geworden, weil es über Armut und korrupte Funktionäre auf dem Lande berichtete. Als das Echo in der Bevölkerung und in den chinesischen Zeitungen zu stark wurde, fiel der Bann der Behörden.
"Insgesamt haben es Chinas Schriftsteller heute weitaus besser als in der Vergangenheit", glaubt Frau Lusby. Manche Autoren, die ihre Werke seit Jahren nur im Ausland veröffentlichen können, kommen mittlerweile zurück nach China und versuchen, den Spielraum zwischen Zensur und den Nischen der Freiheit zu vergrößern. Dazu zählt etwa Ma Jian, dessen gerade erschienener Roman "Beijing Coma" an das Tiananmen-Massaker erinnert. Er lebt in London, hat sich jetzt aber auch eine Wohnung in Peking gekauft.
Viele chinesische Autoren haben derweil das Internet mit seinen Blogs und Literaturforen entdeckt. Auf Webseiten werden sowohl Werke etablierter Schriftsteller als auch Debütromane publiziert. Die Webseite "Rongshu" hat nach eigenen Angaben allein über zwei Millionen Leser und dort sind mehr als 1,9 Millionen literarische Werke auf ihren Seiten abrufbar.
Die Möglichkeit, online zu publizieren, habe in den vergangenen vier, fünf Jahren zu einer "Explosion der Kreativität" in China geführt, beobachtet der Literatur-Übersetzer Eric Abrahamsen. "Die Jugend liest und schreibt online", sagt er, Autoren finden dort Fans und auch Verlage.
Viele, wie der 25-jährige Guo Jingming, der über das Lebensgefühl zwanzigjähriger Städter im neuen China schreibt, sind mit riesigen Auflagen reich geworden. Guo läst sich im eigenen Bentley zu Literaturkonferenzen chauffieren.
Der Markt ist groß: Über 300 Millionen Chinesen sind jünger als 18 Jahre. Zu den populärsten neuen Romanen für die ältere Generation gehört der Roman "Wolfstotem". Autor Jiang Rong war als junger Mann während der Kulturrevolution (1966-1976) aufs Land zu mongolischen Nomaden geschickt worden. Sein Buch gehört zu den wenigen aktuellen Werken, die auch im Ausland erfolgreich sind. Die Auflage der englischen Übersetzung erreichte inzwischen 70.000 Exemplare - "eine Sensation", findet Lusby.
Weitaus mehr ausländische Bücher werden ins Chinesische übersetzt als umgekehrt. Dazu gehören - neben wissenschaftlichen und technischen Schriften - vielfach Biografien erfolgreicher amerikanischer und europäischer Unternehmer und Politiker. Unter Kindern und Jugendlichen ist das "Super Tiger Team" des österreichischen Schriftstellers Thomas Brezina sogar beliebter als der britische Zauberlehrling Harry Potter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!