■ Brutale Eskalation im Rüsselsheimer Kunstkrieg: Familie und Hund entführt und zersägt
Rüsselsheim/Flörsheim (taz) – Die dramatische und brutale Entführung einer vierköpfigen Familie einschließlich des dazugehörigen Hundes hielt für vier Tage die hessische Industriestadt Rüsselsheim in Atem. Jetzt wurden die Überreste von Tochter, Sohn, Mutter, Vater und Terrier im Kirchgarten des nahe gelegenen Untermainstädtchens Flörsheim wiedergefunden, grausam mit Schneidbrenner und Trennschleifer zugerichtet. Doch der Staatsschutz der Rüsselsheimer Kripo ermittelt nicht wegen mehrfachen Mordes, sondern wegen Beschädigung eines öffentlichen Kunstwerks (Paragraph 304 StGB).
Denn bei der Familie handelt es sich nicht etwa um eine leibhaftige „Lebensgemeinschaft der Eltern und ihrer unselbständigen Kinder“ (Brockhaus), sondern um deren Darstellung im Toilettenschilderstil durch den Frankfurter Künstler Otmar Hörl. Die „Blaue Familie“ ist eine Gruppe der sechsteiligen Skulpturenserie „Familientreffen“, die Hörl im Oktober vergangenen Jahres mit großem Brimborium an markanten Punkten der Opelstadt installieren ließ. Wie schon die Fahnenaktion im Jahr davor (garantiert unverrottbare Kunststoffetzen hingen damals wochenlang über den Straßen der Stadt und mußten täglich von Feuerwehr und Stadtwerken entwirrt werden) erregte die Installation bei vielen Bürgern heftige Kritik – zu teuer und ohne Bezug zur Stadt hieß es damals. Prompt wurde denn auch eines der Hundeohren abgesägt und mit einem von „Jack the Ripper“ abgekupferten Bekennerschreiben an die Lokalpresse geschickt. Danach blieb es monatelang ruhig.
In der Nacht zum letzten Montag eskalierte die anscheinend schon eingeschlafene Auseinandersetzung: Von bisher unbekannten Tätern wurde die im Stadtpark stehende Gruppe säuberlich mit Schweißbrenner von ihrem Betonsockel getrennt und ward nicht mehr gesehen. Selbst die intensive Nachforschung im nahen Ententeich brachte keine neuen Erkenntnisse. Die Bürger der Stadt spalteten sich, wie schon bei der Einweihung, in zwei Gruppen: Die eine zeigte sich äußerst befriedigt über das Verschwinden der Figurengruppe, die andere verurteilte die Kidnapper als Kunstbanausen.
Am Mittwoch tauchten die Überreste der blauen Strichmännchen dann wieder auf: In massive Betonsockel gegossen, wurden sie in aller Frühe zwischen Marktplatz und Pfarrkirche des Mainstädtchens Flörsheim von städtischen Arbeitern entdeckt. Die Figuren waren per Schweißbrenner und Schleifhexe mit einem Herzchen, dem Opel-Blitz und einem Gleichgeschlechtigkeitszeichen sowie den Sprüchen „Mach mal Blau“ und „Finger weg vom Asylrecht“ verziert worden. Diese jüngste Eskalation im Rüsselsheimer Kunstkrieg stellt den ermittelnden Staatsschutz vor eine unlösbare Aufgabe: Bis auf einige in der Nähe des Tatorts aufgesprühte Graffiti ließen sich keine Spuren finden. Und ein paar Mauersprüche reichen nicht mal für einen Anfangsverdacht, bekannte die Rüsselsheimer Kripo.
Mit allzuviel Sympathie dürfen die Täter in Rüsselsheim nicht rechnen. Vor allem die Opel-Azubis, die die Figuren 1992 für Hörl ausgesägt hatten, sind äußerst sauer. Doch wenn keine neuen Spuren mehr auftauchen, wird sich die Volksseele wieder abregen müssen. Und mit ihrem für dieses Jahr geplanten Kunstwerk brauchen die Rüsselsheimer Stadtväter keine Angst mehr vor rabiaten Kunstkritikern zu haben – der monströse „Leinenreiter“ würde mit seinem Tonnengewicht jedem Schweißbrenner widerstehen. Aber vielleicht organisiert ja jemand einen Autokran... Peter Thomas
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