■ Briefe zu einem gesellschaftlichen Skandal : Thema Armut neu entdeckt
betr.: „Armes Deutschland“, taz-Titelthema vom 20. 9. 06
Ganz toll, die taz hat nach mindestens 20 Jahren intensiver Armutsdiskussion in Deutschland das Thema „Armut“ neu entdeckt. Das ist besser, als wenn sie es nicht entdeckt hätte.
Aber es zeigt auch, wer mitverantwortlich ist für den fehlenden Respekt vor Arbeitslosen und für das geringe Ausmaß öffentlicher Proteste gegen die neoliberale Armutsverursachungspolitik: Diejenigen, die sich eigentlich als irgendwie links verstehen, aber de facto seit etwa zehn Jahren öko-wirtschaftsliberal schreiben und politisch handeln. Ich meine die taz und viele ihrer grün-nahen Leserinnen und Leser sowie die grüne Partei.
Die sieben von der taz geforderten Prinzipien für Armutspolitik, bleiben dieser wirtschaftsliberalen Politik teilweise verhaftet. Dazu zwei Fragen: 1. Warum muss es eine getrennte Armuts- und Arbeitsmarktpolitik geben? Warum kann man nicht mit Mindestlöhnen und radikaler Arbeitszeitverkürzung die vorhandene Erwerbsarbeit umverteilen? 2. Warum soll es heute keine Sozialversicherungspolitik mehr geben, die die alten Systeme weiterentwickelt? Die schleichende Auflösung dieser Systeme fördert doch die Armut.
Deutlich sichtbar wird dies zurzeit an der so genannten Gesundheitsreform. Marktprinzipien werden noch stärker in das althergebrachte System eingeführt – mit dem Ergebnis, dass dies teurer wird. Die Kassen, die vor allem Ärmere (Frauen, Kinder, Alte, ArbeiterInnen, Arbeitslose) versichern, werden bald Zusatzbeiträge fordern müssen. Die Kassen, die vor allem männliche, jüngere Besserverdiener versichern, werden Beiträge zurückerstatten können. Wer hat, dem wird gegeben. Eine Versicherung für Alle – eine echte Sozialversicherung – würde keine Armut fördern, sondern soziale Gerechtigkeit. CAROLA SCHEWE, Aachen