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■ Brief aus BerlinLieber Peter,

gestern (Schimmel und Kristall ... was für ein schiefes Bild, wie hängen diese Worte zusammen?)

traf ich auf Istanbul (Nostalgie: wie ein abgetragener Frack), als wäre es in Berlin; (ich würde lügen, wenn ich sagte, es hätte mich nicht überrascht) aber keiner nahm Anstoß daran. Ohne Manieren (keine Fotomontage, Phantasie beflügelt, eine Metapher) in den Straßen. In Charlottenburg,

in Kreuzberg, überall;

(neugierig schlendernd, liebessüchtig)

und so fremd der Großstadt. Nein,

ich entdecke die Türken hier nicht von neuem,

mein Wort gilt der Provinz, die Berlin eingenommen hat. (Es hätte auch eine Reiterschar sein können, im Ansturm: mit blanken Schwertern/ herabhängenden Schnauzbärten, voller Staub)

Sie belagern jetzt Berlin (gemeint ist Berlin West)

und den Traum (oder den Mythos) vom bürgerlichen Leben: höflich, fein tolerant und frei. Doch

Berlin (jetzt ganz der Westen) ist, wie du weißt, schon längst eine bürgerliche Stadt ohne Bürgertum:

(Schimmel und Kristall ... was für ein schiefes Bild, wie hängen diese Worte zusammen?)

ich fürchte, es wird schnell fallen.

„Was wird Bestand haben?“ (eine rasche Inventur ist notwendig)

Die, die diese Frage stellen (gibt es die überhaupt?),

sind längst Opfer ihres Don-Quichotten-Daseins.

Ja, gestern traf ich unversehens auf Istanbul (irgendwie kommt mir ein schummriges Mausoleum in den Sinn, auf Kacheln aufblühende Blumen/ ein intensiver Duft von Nelken), als wäre es in Berlin. (Istanbul in Berlin: eine Metapher, entfernt und indirekt – in diesen Tagen hat mich auch die Dichtkunst verlassen, du siehst, die Worte sind unfruchtbar, treffen nicht). Als würde es weise nicken (wie ein weißbärtiger Derwisch): „Laßt euch von mir nicht täuschen, geduldig werde ich mir meine Provinz, die mich eingenommen hat, anpassen. Mein Gesicht ist dem Westen zugewandt, dem Osten mein Rücken, nehmt euch an mir ein Beispiel“, sagt es. So kam es mir vor, ich lächelte, aber es war nicht eindeutig, wer von uns beiden lächelte.

(Sind die Erscheinungen in den Spiegeln nicht eigentlich die Spiegelung der Erscheinungen?)

Dann (gegen 21 Uhr) traf ich mich mit F. C. im Angora. Gemeinsam tranken wir einen Wein (1 Flasche roten Yakut), verloren kein Wort über all dies.

Berlin, Donnerstag, 5. 7. 1990Aras Ören

Aus: Aras Ören/ Peter Schneider, „Wie die Spree in den Bosporus fließt; Briefe zwischen Istanbul und Berlin 1990/91“. Babel Verlag Hund und van Uffelen

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