■ Boris Schumatski: Rußlands neuer Klassenkampf: Erzfeind Frau
Der wichtigste Unterschied zwischen russischer Intelligenzija und sowjetischer Intelligenz besteht darin, daß die russische Intelligenzija alle Leiden Rußlands auf sich lud. Die „Intelligenzler“ sowjetischer Prägung dagegen suchten immer einen neuen Sündenbock. Die jetzt aktivste Generation der 55jährigen, die Altersgenossen der Generation der 68er in Europa, wollte sich vom Persönlichkeitskult um Stalin befreien. Schon bald schoben sie die Schuld an der Not des Landes auf die Bolschewiken und Lenin. Die Wahl des nächsten Sündenbocks war geradezu banal: Kurz vor der Perestroika fing man an, von der Weltverschwörung der jüdischen Freimaurer zu sprechen. Dies wurde aber von der faschistoiden Gruppierung „Pamjat“ diskreditiert, was die letzte „Intelligenzler“-Generation in eine schwierige Lage brachte. Was blieb noch an Feinden? Mann fand: die Frauen. Die historische Begründung der Frauenfeindlichkeit wurde im Februar als Manifest in dem größten Intelligenzblatt Nesawisimaja gaseta veröffentlicht: An der Oktoberrevolution – und somit an der historischen Misere Rußlands – seien nicht die Bolschewiken, nicht die jüdischen Verschwörer, sondern die Frauen schuld. „Die Revolution – merken Sie es sich bitte – ist ein Femininum. Sie verkörperte sich in diesen kinderlosen Fanatikerinnen, in den mit Revolver bewaffneten Kommissarinnen in Lederjacken. Die Frauen, die ,in die Revolution gegangen waren‘, vereinigten Weiblichkeit mit Blutgier, verrieten ihre Männer und ließen die Liebhaber erschießen.“
Natürlich spricht hieraus eine krankhafte Verschwörungsangst. Auch in der späteren Sowjetgeschichte fand man viele Beweise für die neue Verschwörungstheorie. Nur zwei Machtpositionen in der sowjetischen Hierarchie waren hauptsächlich von Frauen bekleidet: die der Lehrerin und die der Richterin. Seltsamerweise reichte es für die sowjetischen „Intelligenzler“, in der Frau die Vertreterin des verhaßten Systems zu sehen. Ein Schriftsteller drückte diesen Haß am deutlichsten im Gespräch mit einer Journalistin aus. „Mir schaudert einfach vor all diesen Lehrerinnen, Ärztinnen, Parteisekretärinnen, vor Leiterinnen überhaupt. Diese mit Orden ausgezeichneten alten Huren! Oder noch schlimmer: ein weiblicher Richter! Stell dir mal vor, eine Richterin, was für ein Urteil kann sie abgeben, wenn sie die Periode hat? Das Weib wird ja hysterisch, es würde lieber das Geschirr an die Wand schmeißen oder an des Mannes Brust flennen, muß aber Recht sprechen. Kannst du Huhn es nicht begreifen, es ist ein Verbrechen! O Gott, ich träume, ihr alle schwört auf die Verfassung: Ihr würdet nur Kinder werfen und sticken. Gebären und sticken!“
Die Übersetzung dieser sexistischen Zitate bereitete mir Schwierigkeiten. Im Russischen haben die Wörter, die den höheren sozialen Status oder eine Machtposition bezeichnen, nur maskuline Endungen: der Kommissar, der Richter, der Arzt, der Minister und so weiter. Die Sprache zwingt einen, von „weiblichen Richtern“ oder „Frauen-Professoren“ zu sprechen. Dagegen haben die einfachen Berufe, sogar die seltenen, weibliche Endungen. Es gibt etwa eine traktoristka, eine Traktorfahrerin. Die linguistische Repression ist nicht auf moderne Berufe beschränkt. In der russischen Sprache haben viele altslawische feminine Adjektive eine abwertende Nebenbedeutung, die den Vögel- und Tierbezeichnungen eigen ist. Eine Entsprechung zur sozialen Diskriminierung in der patriarchalischen altrussischen Gesellschaft.
Seit der Christianisierung Rußlands kämpfte die Kirche mit besonderer Härte gegen altslawische Göttinnen, die man zu Teufelinnen und Hexen erklärte. Paradoxerweise greift der Verfasser des Manifestes in der Nesawisimaja gaseta zu gleichen mittelalterlichen Argumenten. „Der Willen all dieser roten Teufelinnen war von einem anderen, transzendenten Willen geleitet. Lange hatten wir geglaubt, es seien die blinden ökonomischen Gesetze gewesen, die unser Leben bestimmt hätten. Können wir nicht endlich annehmen, daß wir einem höheren Willen gehorchen, dem Willen Gottes – oder des Teufels...“ Der Verfasser wird zu einem eifersüchtigen Inquisitor, der die Beziehung einer Hexe zu einem Inkubus aufdeckt: „Sowjetische Frauen entwickelten die Eigenschaften, die ihrem Geschlecht nicht eigen und nicht nötig sind: Entschlossenheit und Herrschsucht, starker Wille und diktatorische Bestimmtheit. Diese Eigenschaften übernahmen sie von dem einzigen Mann, den sie verehrten: vom Staat. Sowjetische Frauen hegten eine geheime masochistische Liebe zu diesem männlichen Geschöpf.“
Vom Masochismus der Russinnen berichtete noch im sechzehnten Jahrhundert der Baron Sigismund Herberstein. In seinen „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ erzählt er über einen in Moskau lebenden deutschen Kugelschmied, von dem seine russische Frau ganz merkwürdige Beweise der Liebe forderte: Er sollte sie schlagen. „Das übte er mehr und mehr. Zuletzt, während wir in Moskau waren, schlug er ihr Schenkel und Schädel ein.“ Diese Anekdote wurde im Westen mehrmals wiederholt. Sogar Hegel zitierte sie in seiner Philosophie der Geschichte.
Sind die Russinnen nicht deswegen im Westen als Ehepartnerinnen so gefragt? Wie dem auch sei, viele russische Frauen sind tief davon überzeugt. Sie finden ein unerklärliches Vergnügen in ihrer Passivität, sie nennen die westlichen Feministinnen „hysterische Hühner“. Statt Schwarzer lesen sie Sacher-Masoch und de Sade, seit ihrer Veröffentlichung vor einem Jahr schlagartig zu Bestsellern geworden.
Weder Sacher-Masoch noch de Sade sind jedoch imstande, eine Lücke zu füllen, die der Marxismus hinterließ. An Marx' Stelle in der russischen Ikonostase rückt ein neuer Godfather, auch bärtig und männlich: Sigmund Freud. Ehemals überzeugte Marxisten konvertieren zur Psychoanalyse. Paradoxerweise vereinigen sie ihre frische Überzeugung mit dem russischen Christentum zu einer neuen „wissenschaftlichen Ideologie“ – die griechisch-orthodoxe Psychoanalyse. Wie einst der dialektische Materialismus ist diese Ideologie auch eine Waffe im Klassenkampf: jetzt der Klasse Männer gegen die Klasse Frauen. Ganz deutlich wird dies im „Bekenntnis meiner Generation“, das ein Geistlicher unlängst verfaßte: „Die Mutter glich einer Starschauspielerin und hatte gleichzeitig das raubgierige Lächeln des schnurrbärtigen Vaters der Völker Stalin ... Sie wusch mir den Rücken bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr, sie legte meinen Willen lahm, so daß ich mich im Badezimmer nicht abzuschließen wagte ... An der Spitze jeder Offiziers- (d.h. typisch sowjetischen) Familie stand eine Opferpriesterin des Satans, eine lüsterne astrale Hure ...“ Der Alte Freud hätte sich sicherlich über so einen sonderbaren Fall des Ödipuskomplexes sehr gefreut. Es ist höchste Zeit, den „Anti-Ödipus“ ins Russische zu übersetzen.
Die prominente Journalistin straft den Schriftsteller, der die Frauen aufs unflätigste verunglimpft, nicht etwa mit kategorischer Nichtbeachtung. Sie läßt es sogar zu, daß er sie „du Huhn“ nennt. Schlimmer noch, sie stützt seine Aussage. In ihrem Essay entwickelt sie eine seltsame Metapher: Rußland (das übrigens im Russischen Femininum ist) erlebe im Moment ein schweres Klimakterium. „Wir sind ins tragische Alter der Menopause eingetreten. Wir werden hysterisch. Wir taugen zu nichts mehr, Mütterchen.“ Diese Journalistin ist auch eine „Intelligenzlerin“ sowjetischer Prägung. Ihr Essay ist die Anerkennung einer Niederlage. Nicht die der Frauen, geschweige denn Rußlands. Es ist die Niederlage der Generation, die jetzt an der Macht ist.
Nach der Veröffentlichung des sexistischen Manifestes über die „kinderlosen Kommissarinnen in Lederjacken“ haben alle jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Nesawisimaja gaseta verlassen und ein neues Blatt gegründet. Nur die älteren „Intelligenzler“ sind geblieben. Der moderne russische Sexismus ist nicht allein ein Geschlechter-, sondern auch ein Generationskonflikt: Die politische Elite, die sich Demokraten nennt, besteht fast ausschließlich aus 50jährigen Männern. Die demokratische Macht behandelt Frauen mit einem unbewußten Schuldgefühl und gleichzeitig mit demonstrativer Überlegenheit. Und natürlich richtet sich diese Überlegenheit nicht gegen die emanzipierten jungen Profis, die eine statistisch vernachlässigbare Ausnahme darstellen, sondern gegen die „typisch sowjetischen“ Familienmütter.
Dankend erhielten sie ein Geschenk vom Bürgermeister Moskaus zum letzten Frauentag: 5.000 Rubel (10 Mark) für alle Kriegsteilnehmerinnen und Kriegswitwen, einschließlich des Krieges in Afghanistan und der jüngsten nationalen Konflikte. Auf den Kampf für wirkliche Gleichberechtigung und Emanzipation lassen es beide Seiten nicht ankommen.
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