„Bombardiert das Hauptquartier!“

Propagandabilder und geheime Aufnahmen eines „Roten Nachrichtensoldaten“ zeigen Faszination und Schrecken der chinesischen Kulturrevolution

Von SVEN HANSEN

Als Parteisekretär und Gouverneur der nordöstlichen Provinz Heilongjiang war Li Fanwu ein mächtiger Mann. Bis ihm 1966 ein einfaches Foto zum Verhängnis wurde. Er blickt aufs Meer, sein Haar ist stramm zurückgekämmt, und er trägt einen Trenchcoat. Fatal war: Sein Aussehen und seine Haltung ähnelten auffällig dem von Mao Tse-tung auf einem damals berühmten Bild. So wurde das Foto von Li während der Kulturrevolution kurzerhand zum Beweis für die Machtgier des Gouverneurs. Zudem unterstellte ihm ein Tribunal eine inzestuöse Beziehung mit seiner ältesten Tochter.

Li war das prominenteste Opfer „der großen proletarischen Kulturrevolution“ (1966 bis 1976) in Heilongjiang. Bei einer „Kampfversammlung“ der Roten Garden wurde ihm brutal das Haar rasiert. Stundenlang musste er unter einem Transparent mit Maos Losung „Bombardiert das Hauptquartier!“ in Büßerhaltung vor der aufgepeitschten Menschenmenge stehen. Zweitausendmal wurde Li in den folgenden Wochen mit dem Schild „Lokaler Despot“ um den Hals durch die Provinzhauptstadt Harbin gekarrt und fäustereckenden Menschenmengen präsentiert.

Die Demütigungen des einstigen Gouverneurs hat der junge Fotograf Li Zhensheng auf Bildern für das staatliche Heilongjiang Tagblatt dokumentiert. Li war anfänglich selbst von der Kulturrevolution begeistert und gründete in der Redaktion eine Kampfgruppe, um die begehrte rote Armbinde mit der Aufschrift „Roter Nachrichtensoldat“ zu bekommen. Sie erleichterte ihm das Fotografieren der Massenveranstaltungen, bei denen er selbst die Fäuste reckte, und bot ihm Schutz, bis er eines Tages in Ungnade fiel und für zwei Jahre zur „Umerziehung“ aufs Land geschickt wurde. Davor und, dank seiner Rehabilitierung, auch danach hielt er in rund 30.000 Schwarzweißaufnahmen die Ereignisse der damaligen Zeit fest. Doch anders als ihm befohlen gab er die Negative nicht ab, sondern versteckte sie unter den Dielen seiner Wohnung.

Bemerkenswert daran ist, dass er eben auch Szenen fotografierte, die keine Parteipresse sehen wollte. Lis Bilder gelten heute als umfangreichste Fotosammlung zur Kulturrevolution. Sie zeigen Mao-Porträts und -Bibeln schwingende Demonstranten, Bauern bei Massenkampagnen, die Zerstörungen von Kirchen und Tempeln, marschierende Schulkinder, verzückte Rotgardisten beim „Loyalitätstanz“, Opfer von Kämpfen rivalisierender Garden, Demütigungen und die Hinrichtung von „Konterrevolutionären“. Neben einigen gestellten Bildern und nachretuschierten Fotos gelangen Li einige Aufnahmen, die zumindest heute hinter der Propaganda den Schrecken der damaligen Zeit sichtbar machen.

Li wagte sich mit 20 seiner Bilder erstmals zwölf Jahre nach Maos Tod 1988 an die Öffentlichkeit. Damals in einer der liberalsten Phasen der Volksrepublik konnten sie sogar in Peking gezeigt werden. Dort sah sie Robert Pledge, Leiter der New Yorker Fotoagentur Contact Press Images. Er und Li wollten daraus ein Buch machen. Doch mit der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung 1989 folgte ein weiteres dunkles Kapitel chinesischer Geschichte, und das Buchprojekt musste verschoben werden. In den letzten Jahren schickte Li die 30.000 Negative zunächst einzeln nach New York, wo er mit einem Team 330 Bilder auswählte.

Nachdem im vergangenen Sommer einige der Fotos im Pariser Hotel de Sully zu sehen waren (siehe taz vom 9. August 2003), liegen sie jetzt in einem sehens- und lesenswerten Band vor. In „Roter Nachrichtensoldat“ beschreibt Li seine Erlebnisse der damaligen Zeit und erzählt die Geschichte hinter den Bildern. Die Begleittexte der im Plastikrot der Mao-Bibeln gebundenen Buch ordnen die Fotos historisch ein, ohne jedoch besonders hintergründig zu sein.

„Wie war es möglich, dass Millionen Jugendliche auf Maos Rhetorik, seinen bewussten Aufruf zur Unordnung, hereinfielen? Wie war es möglich, dass sich Parteifunktionäre in verantwortungsvollen Positionen so schnell Parolen skandierenden Teenagern ergaben?“, fragt der angesehene Chinaforscher Jonathan Spence im Vorwort, um sogleich hinzuzufügen, dass vieles noch heute unerklärt bleibt. Die historischen Ereignisse sind zwar zu einem Gutteil erforscht, aber angesichts der Bilder werden sich viele fragen, warum manche 68er-Studenten die Kulturrevolution als antiautoritäre Revolte missverstehen konnten.

Lis Bilder gewähren wertvolle Einblicke. Sie zeigen, wie die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen. So war auch Fotograf Li nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Mitläufer, Propagandawerkzeug, Täter, Profiteur, Opfer und ist heute eine Art Aufklärer. China hat sich seit Maos Tod sehr zum Vorteil gewandelt. Doch die Kommunistische Partei, die das damalige Chaos zu verantworten hatte, ist noch heute an der Macht. Sie hat es geschafft, den „guten“ Mao für sich zu behalten und den „schlechten“ indirekt mit seiner dritten Frau, die eine führende Rolle in der Kulturrevolution und der „Viererbande“ spielte, zum Tode zu verurteilen.

Dass noch heute Maos Porträt am Eingang zur Verbotenen Stadt hängt, Verurteilte gelegentlich auf Lkws präsentiert und vor Menschenmengen hingerichtet werden und die Partei noch formal an Massenkampagnen festhält, gehört zu den widersprüchlichen Kontinuitäten im sich rasch modernisierenden China. Lis Bilder halten dem Land den historischen Spiegel vor und sind gerade wegen Lis eigener widersprüchlicher Rolle geeignet, eine Diskussion zu entfachen, die auf Information und Aufklärung setzt. Noch darf der Fotoband in China nicht erscheinen.

Li Zhensheng: „Roter Nachrichtensoldat. Ein chinesischer Fotograf in den Wirren der Kulturrevolution“. Phaidon Verlag, Berlin, 316 Seiten, 39,95 €