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Archiv-Artikel

Bloß weg? Bloß nicht!

FORDERUNG Was zu tun ist in Afghanistan: Verhandlungen mit der bewaffneten Opposition, mehr Training der Polizei, weniger Militär. Und bauen auf die Zehntausende, die das Land kennen

Winfried „Winnie“ Nachtwei

■ 67, war Leutnant der Reserve, aktiv in der Friedensbewegung, Lehrer und von 1994 bis 2009 für die Grünen im Bundestag. Über 40 Besuche in Krisenregionen, davon 17 in Afghanistan. Kovorsitzender des Beirats Zivile Krisenprävention beim Außenamt.

VON WINFRIED NACHTWEI

D Afghanistan-NGO Safety Office Anso meldet für das erste Quartal 2013 eine Zunahme der Aufständischen-Angriffe um 47 Prozent. Davon richteten sich 83 Prozent auf afghanische Sicherheitskräfte und Zivilpersonen. Bis Ende 2014 soll die Masse der internationalen Kampftruppen das Land verlassen haben, soll die Sicherheitsverantwortung voll auf die afghanische Seite übergehen.

Ob der Übergang glimpflich verläuft, ob Teilfortschritte der letzten Jahre von Re-Talibanisierung und Abdriften in Richtung Bürgerkrieg weggespült werden, ist ungewiss und hängt von vielen Faktoren ab. Der Verlauf der Präsidentschaftswahlen, politische Verhandlungen mit der bewaffneten Opposition, die Politik der Nachbarn, insbesondere Pakistans, sind von ausschlaggebender Bedeutung – und nicht zuletzt die Verlässlichkeit einer solchen internationalen Unterstützung, die im Land wirklich gebraucht wird und willkommen ist.

Wo seit Jahren fast nur schlechte Nachrichten aus Afghanistan kommen, ist die verbreitete Afghanistanmüdigkeit naheliegend. Aber nach bald zwölf Jahren eines UNO-mandatierten internationalen Engagements wäre ein generelles „Bloß weg vom Hindukusch“ zugleich zynisch, angesichts der gemachten Versprechen und Großfehler, und verantwortungslos, angesichts der Kosten und Opfer.

Was müsste von Deutschland aus für einen möglichst glimpflichen Übergang in Afghanistan getan werden, zusammen mit möglichst vielen Partnern und Verbündeten? An erster Stelle, sich und die Öffentlichkeit ehrlich machen im Hinblick auf die tatsächliche Lage und die Wirksamkeit der eigenen Politik: Verzicht auf Schönrednerei, Überwindung von Wunschdenken; aber auch kein Ignorieren von Teilfortschritten; insgesamt unabhängige Wirksamkeitsbewertungen. Im Umfeld einer Bundestagswahl erscheint eine solche Forderung naiv. Sie ist trotzdem nötig.

Überfällig ist ein Perspektivwechsel: Weg von der – fast ausschließlichen – Fixierung auf Militärfragen hin zu den politischen Schlüsselfragen und der Wahrnehmung von Chancen.

Dass die Präsidentschaftswahlen 2014 flächendeckend durchgeführt und als einigermaßen glaubwürdig wahrgenommen werden können, ist für den weiteren Konfliktverlauf von zentraler Bedeutung. Dies nach besten Kräften zu unterstützen, ist die Pflicht der UNO und ihrer Mitgliedstaaten. Bisher scheint es substanzielle Gespräche mit der bewaffneten Opposition nicht zu geben. Sie systematisch auf regionaler wie lokaler Ebene zu befördern, ist auch die Aufgabe deutscher Diplomatie. Immerhin leitet der deutsche Botschafter Michael Koch die Internationale Kontaktgruppe zu Afghanistan und zu Pakistan.

Der Norden Afghanistans mit Mazar-i-Scharif als Zentrum ist die Region mit der relativ günstigsten Sicherheitslage und mit den größten Chancen. Hier lag seit 2004 der Schwerpunkt des deutschen Engagements, hier bleibt Deutschland in besonderer Mitverantwortung bis 2014, aber auch danach.

Elementar für die künftige Bürgersicherheit im Land ist nicht die Armee, sondern die Polizei. Die Rückstände beim Polizeiaufbau sind besonders eklatant, die Opfer bei der Polizei extrem hoch. Der bisherige Polizeiaufbau würde nach 2014 ohne eine substanzielle Unterstützung durch internationale Polizeiberater und Rule-of-Law-Programme schnell zerbröseln. Auch wenn sich der Bundestag wenig und die Öffentlichkeit gar nicht dafür zu interessieren scheint: Bis 2014 darf die deutsche und europäische Polizeiaufbauhilfe auf keinem Fall nachlassen. Für die Zeit danach muss die Bundesregierung schleunigst ein Angebot vorlegen, dass und wie sie weiterhin einen gewichtigen Beitrag zum Polizeiaufbau gewährleisten will.

Geld und Menschen

■ Der Afghanistanabzug der ausländischen Truppen geht in die heiße Phase. Das Angebot der britischen Regierung, rund 600 afghanischen Dolmetschern nach dem Ende des Einsatzes 2014 Visa anzubieten, hat in Deutschland die Debatte über die Helfer neu entfacht. Derzeit beschäftigen die Bundeswehr und das für die Polizeiausbildung zuständige Bundesinnenministerium knapp 1.500 Ortskräfte in Afghanistan. Rund 1.300 davon sind für die Bundeswehr tätig.

■ Die Kosten des Afghanistaneinsatzes sind schwer zu beziffern. Laut der Bundesregierung kostete der Afghanistaneinsatz in den zehn Jahren von 2002 bis 2011 6 Milliarden Euro. Für Aufbau und Entwicklung stellte Deutschland 1,7 Milliarden zur Verfügung, die deutsche Polizeihilfe belief sich auf gut 300 Millionen Euro. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bezifferte aber zum Beispiel die Militärkosten für das Jahr 2010 fast doppelt so hoch wie die Regierung.

■ Die USA haben in den Jahren 2001 bis 2013 744,6 Milliarden Dollar ausgegeben, davon für Militäreinsätze 707 Milliarden – ohne Geheimdienstoperationen.

Im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit arbeiten in Afghanistan über 2.000 Personen, davon 1.760 Einheimische. In vom Auswärtigen Amt finanzierten Projekten weitere 1.700 Personen, davon über 1.600 Einheimische. Hinzu kommen viele Frauen und Männer, die in Einrichtungen von deutschen NGOs in anderen Landesteilen arbeiten. Sie arbeiten an den Chancen des Landes. Hier kommt es gerade in der Zeit des Truppenrückzuges darauf an, den afghanischen Menschen glaubwürdig zu vermitteln, dass die internationale Aufbauunterstützung verlässlich bleibt – wo sie gewünscht ist.

Deutsch-afghanische Entwicklungszusammenarbeit der 60er und 70er Jahre ist in bester Erinnerung, etwa im Südosten, und lebt bis heute in dichten persönlichen Beziehungen fort. Solche Chancen könnten von Partnerschaften zwischen Bundesländern und afghanischen Provinzen flankiert werden.

Inzwischen gibt es in Deutschland neben vielen Exilafghanen Zehntausende von Frauen und Männern, die Afghanistan vor Ort erlebt haben, die das Land und seine Menschen nicht mehr loslässt, denen deren Zukunft nicht egal ist. Die meisten wollen nicht, dass aller Einsatz umsonst war. Es ist an der Zeit, dass diese neuen und alten Freunde Afghanistans sich öffentlich artikulieren, als Gegengewicht zur Grundstimmung eines pauschalen „Bloß weg vom Hindukusch“.

Selbstverständlich sollte Afghanistan Thema im Bundestagswahlkampf sein – allerdings nicht auf Kosten der Menschen dort.