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Archiv-Artikel

Besuch beim Augenarzt

Jürgen Schneiders Buch über den Aufenthalt von James Joyce 1930 in Wiesbaden

Was wollte Joyce in Wiesbaden? Er war beim Augenarzt. Dass man aus dem Kurzbesuch des irischen Schriftstellers in der hessischen Metropole ein Buch machen kann, wenn auch nur ein schmales, aber reich illustriertes Bändchen von 52 Seiten, ist überraschend. Noch überraschender ist, dass es sich dabei um ein durchaus lesenswertes Buch handelt. Auf die Idee, es zu schreiben, kann nur ein Wiesbadener kommen. Jürgen Schneider, der als Übersetzer und Publizist in Berlin lebt, wurde in Wiesbaden-Sonnenberg geboren und wuchs in dem nach der keltischen Göttin Brigid benannten Vorort Bierstadt auf. Erschienen ist das Buch natürlich auch in einem Wiesbadener Verlag: bei Thorsten Reiß.

James Joyce, seine Lebensgefährtin Nora Barnacle und die gemeinsame Tochter Lucia hielten sich vom 14. bis 21. April 1930 in Wiesbaden auf und wohnten im Hotel Rose, einem Kochbrunnenbadhaus, das erstmals im Jahr 1500 urkundlich erwähnt wurde und dessen Geschichte Schneider in einem eigenen Kapitel vorstellt. Das Hotel ist seit vorigem Jahr Sitz der hessischen Staatskanzlei. Die Taunusstraße 63, wo der Augenspezialist Professor Dr. Hermann Pagenstecher und sein Sohn Dr. Adolf Pagenstecher eine Gemeinschaftspraxis betrieben, liegt ganz in der Nähe des Hotels Rose. Joyce, der zur Zeit seines Wiesbaden-Abstechers bereits achtmal am Auge operiert worden war, hatte schon als Kind Probleme mit der Sehfähigkeit. 1908 hatte er einen solch schweren Anfall von Regenbogenhautentzündung, dass Blutegel angesetzt werden mussten. Obwohl Joyce den Alkohol aufgab, weil der die Krankheit verschlimmerte, verschärfte sie sich 1917, dass er einmal sogar zwanzig Minuten vor Schmerzen bewusstlos war und später mit Kokain behandelt wurde. Es hatte ihm offenbar nichts genützt, dass er die 1907 geborene Tochter auf den Namen Lucia taufte. Die heilige Lucia ist Schutzpatronin der Augen und Heilerin von Augenleiden.

Hermann Pagenstecher hatte eine Reihe von Patienten aus europäischen Königshäusern. Die berühmteste war Königin Viktoria von England, die von Joyce mal als „die alte Hexe mit den gelben Zähnen“, mal als „blähsüchtige alte Vettel“, und mal als „verwitwete Zauchtel“ bezeichnet wurde. Erfolgreich operiert wurde Joyce aber nicht von Pagenstecher in Wiesbaden, sondern im Mai 1930 von Professor Alfred Vogt in Zürich.

Schneider verweist in seinem Buch auf zahlreiche Textpassagen in Joyce’ Werken, so im „Ulysses“ und im „Porträt des Künstlers als junger Mann“, in denen Joyce sein Augenleiden thematisiert. Außerdem stellt Schneider Verbindungen her zu seinem Namensvetter, dem Immobilienspekulanten Jürgen Schneider, der aus dem Hotel Rose ein Grandhotel machen wollte, und zu Arno Schmidts „Zettels Traum“, dessen Hauptfigur nicht zufällig Daniel Pagenstecher heißt. Und Joyce, so schreibt Schneider, hat in einem Brief an seinen Sohn ein deutsches Wort kreiert: „Nichtsehtum.“ RALF SOTSCHECK

Jürgen Schneider: „Joyce in Wiesbaden“. Thorsten Reiß Verlag, Wiesbaden 2005, 52 Seiten, 22 Abbildungen, 8,80 Euro