Besuch bei Avni Altiner, dem Vorsitzenden der Schura Niedersachsen : Der Mann der 1.000 Türen
Avni Altiner steht im Anorak vor dem Hauptbahnhof Hannover, der Zug hatte Verspätung, viele Minuten muss er da in der Kälte gestanden haben. „Kein Problem“, sagt er nur und stapft an den Weihnachtsmarktständen vorbei durch den Schnee. Altiner ist der Vorsitzende der Schura Niedersachsen, des größten Moscheenverbandes des Landes. Er ist Gast in Talkshows und Ansprechpartner der Landesregierung, ununterbrochen klingelt sein Handy, weil Leute etwas von ihm wollen. Aber wenn Besuch kommt, holt er ihn ab.
In Hannover-Linden, wo er wohnt, gibt es vier Moscheen, sagt Altiner, zwei sind afghanisch, zwei türkisch. Eine von den türkischen ist seine, darin hat er sein Büro direkt neben dem Gottesdienstraum mit dem schönen Teppich. Es ist ein schlichtes Büro, an der Wand eine Stuhlreihe für Besucher, auf dem Regal steht ein Foto, es zeigt einen Mann mit Fellmütze. Das ist der islamische Gelehrte Said Nursi, und wenn man Altiner fragt, wer das ist, kommt er ins Erzählen. Nursi und die Kurden, Nursi und Atatürk.
Auf Said Nursi geht die Nurculuk-Reformbewegung zurück, zu der auch die Moschee von Altiner gehört, die sich darum auch nicht Moschee, sondern Schule nennt: Madrasa. Sie ist ein Ort des Lernens, nach dem Freitagsgebet lesen sie zusammen die Schriften von Nursi, aber auch andere Koran-Kommentare, jeder ist einmal dran und muss einen Vortrag halten. „Es muss ja nicht immer der Imam sein“, sagt Altiner, unter seinem Anorak ist ein Anzug hervorgekommen. Unsere Füße stecken in Pantoffeln.
Als Avni Altiner sein Amt antrat, war gerade 9/11. „Neun Jahre, ohne dass einen der Verfassungsschutz oder der politische Gegner abschießt“, sagt Altiner. Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff hat ihm geholfen, er sorgte dafür, dass Altiner bei VW in Hannover-Stöcken nicht mehr Wechselschicht arbeiten musste, sondern nur noch Frühschicht.
„Man muss als Schura-Vorsitzender irgendwie präsent sein, die Leute verstehen das sonst nicht, wenn man keine Zeit hat“, sagt Altiner, der mit kleinen Bewegungen durch die Glastür signalisiert, dass neuer Tee gebracht werden soll und neues Gebäck. Eine runde Bewegung bedeutet: „Einen Teller mit Süßigkeiten bitte.“
Es sei wichtig, glaubt Altiner, gute Taten zu tun. Er zitiert einen Spruch: „Gebe den Menschen gute Taten, und wenn sie sie nicht wollen, werfe sie ins Wasser für die Fische“, oder so ähnlich. Ich sage, dass mich das Religiöse nicht so interessiert, aber Altiner meint, das mache nichts. „Die Seele hat 1.000 Tore“, sagt er. Und irgendwann werde sich eines dieser Tore öffnen, auch bei mir. Er schaut mich an, seine Augen sind warm. Dann zieht er seinen Anorak an und bringt mich zum Bahnhof zurück.
DANIEL WIESE