Berufskleptomanen am Werk

Schwarze Vitrinen, Backmischung „Buttertraum“ und der elektroakustische Subharchord: Die neue Akademie der Künste am Pariser Platz lässt sich von Künstlern in die Archive schauen und so das 20. Jahrhundert in hermetischen Räumen auferstehen

Einst wurden Brecht und Helene Weigel beim Schokoladekauf in der HO angepampt

VON BARBARA KERNECK

Künstler sind diebische Elstern. Manisch schleppen sie in ihre Nester, was sie anregen könnte – zu Kunstwerken eben. Diese berufsspezifische Kleptomanie hat sich jetzt die AdK zunutze gemacht, indem sie neun Künstlerinnen und Künstlern ihre Archive öffnete und die Losung ausgab: Macht etwas Eigenes daraus, aber beschränkt euch auf Archivalien aus dem 20. Jahrhundert. Zweck der Übung war es, außenstehenden Besuchern einen Zugang zu den Archivschätzen zu eröffnen. Herausgekommen ist die Ausstellung „Künstler. Archiv“, die am 18. Juni im neuen Akademie-Gebäude am Pariser Platz eröffnet wurde.

Schon im ersten Raum der Ausstellung zeigt sich ein Trend, dem die Hälfte der zur Mitarbeit Eingeladenen folgte: ein Streben nach hermetischen Räumen, die ins Verborgene ziehen. Ilya und Emilia Kabakov, selbst obsessive Sammler, wurden in der Abteilung Baukunst fündig: bei expressionistisch-utopischen Architekturbewegungen wie der „Gläsernen Kette“, allen voran Bruno Taut. Die Installation „Project for the Demonstration of Archive“ füllt das Zimmer mit hohen schwarzen Vitrinen. Jede ist eine Mischung aus Sarkophag, Pyramide und Arche, die fantastische, fein ziselierte Architektenzeichnungen birgt. Taut wollte zum Beispiel Wasserfälle wie römische Brunnen einfassen. Er träumte davon, die Alpen architektonisch so umzugestalten, als müsse er die Erdbevölkerung gegenüber Außerirdischen vertreten. Die Kabakovs präsentieren diese Utopien der Vergangenheit als Inspiration für die Zukunft – kultisch in intimes Licht gerückt.

Enge zu schaffen ist auch dem in Berlin lebenden Argentinier Miguel Rothschild gelungen. Sein bauchiges, begehbares Tempelchen könnte ebenfalls den Fantasien der „Gläserne Kette“-Architekten entsprungen sein: Die Mauern sind aus zeitgenössischem Material, liebevoll stapeln sich Nahrungsmittelpackungen – Grissini-Päckchen und Kartons der Mandarinenkuchen-Backmischung „Buttertraum“. Die fast schwebenden Gewölbe stützen zierliche Säulchen aus runden Dosen – einst gefüllt mit „sahnigem Vanilleeis Marke Landliebe“. Das Ganze wirkt ebenso leicht entflammbar wie einsturzgefährdet und entlockte bei der Eröffnung der Malerin Sabine Drasen den Ausruf: „Da kann man mal sehen, wie die profansten Dinge in der Kunst durch Reihungen an Bedeutung gewinnen und ins Sakrale gesteigert werden.“ Jochen Gerz, ein Künstler, dessen Arbeit sich mit dem Thema „Gedächtnis“ beschäftigt, fragt nach dessen Verlust. Für seine Installation „Zeit der DDR“ werden während der Ausstellung über 300 Stunden lang Texte aus der ehemaligen DDR verlesen, private Briefe, Propaganda-, Verwaltungs- und literarische Texte.

Carmen Bärwaldt, einst bei der Defa als „Filmredakteur“ tätig – die männliche Berufsbezeichnung ist ihr wichtig –, hat sich freiwillig zum Vorlesen gemeldet. Was sie lesen wird, weiß sie noch nicht, das hängt davon ab, wie weit die Lesenden vor ihr gekommen sind. Gerade handelte ein Text davon, wie einst Brecht und Helene Weigel beim Schokoladekauf in einer HO angepampt wurden. Davor las jemand einen Zeitungsartikel von 1950, als das Kinderkaufhaus in der Strausberger Straße eröffnet wurde. Hier gab es auch ein Kindercafé und ein Kindertheater, wohin Carmen Bärwaldt als kleines Mädchen oft von Oma ausgeführt wurde. Sie freut sich: „Man wird hier mit einer Geschichte konfrontiert, die vielleicht später nie wieder jemand so erlebbar macht.“

1993 haben sich die beiden Nachkriegsakademien aus Ost (Neugründung 1950) und West (Neugründung 1954) vereinigt. Die sechs Abteilungen der heutigen Mitglieder-Akademie (Bildende Kunst, Baukunst, Musik, Literatur, Darstellende Kunst, Film- und Medienkunst) finden auf 6.000 Regalmetern ihre Entsprechung im Archiv. Bedeutend sind vor allem die Bestände zum Künstlerexil in der NS-Zeit, zum Jüdischen Kulturbund und zum deutschsprachigen Theater seit 1900. Hinzu kommen viele Personenarchive wie das Bertolt-Brecht-Archiv in dessen ehemaliger Wohnung in der Chaussee- und neuerdings das Walter-Benjamin-Archiv in der Luisenstraße. Die Vorgänger in West und Ost hatten beide ihre Stärken und Schwächen. So wurde mit der Dokumentation des Wiederaufbaus der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg für den Ostteil erst nach 1993 begonnen. Aus dem Osten stammen dafür die starke Sammlung der Kunst der Weimarer Republik und eine Plakatsammlung, die fast vollständig das Repertoire der DDR-Bühnen und der Defa-Filmproduktionen belegt.

Schon länger hatte Carsten Nicolai nach einem in den 1960er-Jahren vom Rundfunk-und Fernsehtechnischen Zentralamt der DDR in Adlershof entwickelten Instrument gesucht, das im E -Studio der Akademie gelandet war. Nun steht es zerbrechlich in einem großen, bunkerartigen Betonraum im Keller der Ausstellung: das elektroakustische Subharchord, nach aufwändigen Reparaturen und so manchem Kurzschluss wieder voll funktionsfähig. Die von diesem Unikum live erzeugten Tonspektren werden über eine vom Künstler entwickelte Software visuell umgesetzt und auf die weißgetünchte Stirnwand des Bunkers projiziert. Die Besucher können das Zusammenwirken von Klang und Bild von einer Galerie aus verfolgen. Was da zu Sphärenklängen über die Wand flackert wie schmelzende Klaviertasten, ist ein Elektro-Enzephalogramm, zu dem tief unten das Gehirn der kastenförmigen Kostbarkeit pulsiert. Das Gerät auf dem Podest erschafft sich seine eigene Galaxis. „In dieser Ausstellung hat Nicolai den besten Raum, und er hat ihn erobert“, bemerkt Kee Hong Low, Generalmanager der Biennale von Singapur, und lehnt sich weit über die Brüstung des unterirdischen Ex-Lagerraums. Der Singapurer vermutet: „Nachdem dieses Exponat hier gestanden hat, wird man ihn zukünftig wohl anders nutzen.“