Berliner Tagebuch: Im Versteck
■ Berlin vor der Befreiung: 17. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Zur Erklärung: Als in Kreuzberg während eines Bombenangriffs ein US-Flugzeug abstürzte, wurde der überlebende Pilot von Kindern versteckt. (d. Red.)
Jürgen rannte zur Maschine, fand unterhalb des Fensters den Hebel. Die Seitenwand konnte er dadurch mühelos lösen, und eine falsche, viereckige Tasche kam zum Vorschein. Ohne lang zu überlegen, schnappte er sich diese und trottete dann, als wenn er etwas suche, die Straße entlang, um die Ecke links herum zum Landwehrkanal. Die Tasche hatte er unter seine Jacke geschoben. Der schmale Jürgen mit seinem dicken Bauch und einer geschwellten Brust muß recht komisch ausgesehen haben. Aber wichtig war, daß ihn niemand sah und er ungeschoren zur Hütte kam.
Er öffnete die Dachluke, sah Garry im Sitzen schlafen. Schnell schwang er sich hinunter. Erschreckt wollte Garry aufstehen und stieß sich erst einmal gewaltig den Kopf, denn ein Erwachsener konnte hier drinnen nicht stehen, wenn das Dach geschlossen war. Jürgen erkennend, entspannte sich sein Gesicht und er sagte: „Good morning“, was Jürgen natürlich nicht verstand. Unter der Jacke holte er jetzt die Tasche vor. Freudestrahlend öffnete Garry die beiden Schnallen. Interessiert schaute Jürgen zu. Die Tasche klappte völlig auf und war nun eine Platte mit vielen, vielen kleinen Stecktaschen. Alle waren gefüllt: Verbandszeug, Medikamente, Schreibzeug, Notration, winzige Büchsen, Zigaretten, kleine Tafeln Schokolade, verschiedene Papiere und Ausweise und vieles mehr.
Mit Händen und Füßen und mit Hilfe von Papier und einem Bleistift gingen nun die Fragen und Antworten hin und her. Jetzt hatte Garry sogar ein winziges deutsches Wörterbuch ausgegraben und suchte krampfhaft darin nach passenden Wörtern. Endlich hatte er etwas gefunden und fragte in einem Kauderwelsch von Deutsch-Englisch: „Niemand hier kommt?“ Jürgen schüttelte den Kopf. Garry zeichnete einen Halbmond und einige Sterne, zeigte auf sich, auf die Hüttenöffnung und machte die Bewegung des Weggehens. Jürgen zuckte mit den Achseln und zeigte in die verschiedenen Richtungen. Diese Geste sollte „wohin?“ bedeuten. Garry zeigte auf seine Papiere und lachte mit einem zugekniffenen Auge. Zu zwölf Uhr verabredeten sich die beiden noch einmal.
Jürgen machte ihm verständlich, daß es jetzt keine Gefahr gab. Bei einem Angriff sollte Garry in der Hütte bleiben, sollte sie beschädigt werden, mußte er selbst weitersehen. Garry klopfte Jürgen auf die Schulter und sagte: „You are o.k.!“ Regina Schwenke
Regina Schwenke, „Und es wird immer wieder Tag“, arani Verlag, Berlin 1983.
Regina Schwenke, geboren 1938, Journalistin, u.a. Chefredakteurin der „Berliner Senioren Post“, hat ihre Kriegserlebnisse aus Neukölln in einem Tatsachenroman niedergeschrieben.
Recherche: Jürgen Karwelat
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