Berliner Tagebuch: Man wird abgebrüht
■ Berlin vor der Befreiung: 18. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Frank Matthis wohnt für ein paar Tage bei uns. Es ist besser, wenn er sich nicht allzuoft in seinem Luftschutzkeller blicken läßt. Seit dreieinhalb Wochen kommen die Moskitos jede Nacht. Gelegentlich sogar zweimal. Das ist die Revanche für unseren albernen V1-Beschuß. Für die prahlerische Behauptung in jedem Wehrmachtsbericht: Das Vergeltungsfeuer auf London wird fortgesetzt.
Wieder mal sitzen wir beim Frühstück, als die Sirene losheult. Vollalarm! Schon nach den ersten Anflügen merken wir, daß unsere Viertel nicht gemeint sind. Sie überfliegen uns zwar, aber ihre Last ist für andere Bezirke bestimmt. Wir stellen uns vor die Haustür und starren zum Himmel empor. Die Bomber dröhnen heran. Große silberne Vögel. Gefährliche Vögel! Wir ziehen die Köpfe ein. Dort, wo die weißen Zeichen stehen, kracht ein Einschlag nach dem anderen. Immer neue Geschwader folgen.
Endlich, nach zwei Stunden, kommt Vorentwarnung. Wir stürzen hinauf, so rasch unsere Beine uns tragen. Wenn wir Glück haben, kriegen wir das Mittagessen fertig, ehe sie uns den Strom absperren. Bis zur Vollentwarnung bleiben zehn Minuten. Bratkartoffeln, Kaffeewasser, für jeden ein Spiegelei aus der letzten Zuteilung. Es brodelt in allen Töpfen. Es ist ein Wettrennen mit der Zeit – mit dem Strom – mit der Berliner Elektrizitätsgesellschaft. Man kocht nicht mehr, wenn man Hunger hat, sondern wenn es die Sperrzeit erlaubt. Man riskiert lieber eine Bombe auf den Kopf als die Aussicht, vier Stunden mit knurrendem Magen herumzusitzen. Man wird abgebrüht selbst gegen das Sterben. Eine Minute, nachdem der Drahtfunk seine Tätigkeit eingestellt hat, schweigt auch das Radio. Aus ist es mit dem Strom. Vollentwarnung. Doch wir haben es geschafft. Unser Mittagessen ist gerettet. Ruth Andreas-Friedrich
„Der Schattenmann“, Suhrkamp 1984, Tagebuchaufzeichnungen von 1938 bis 1945. „Schauplatz Berlin“, Suhrkamp 1984, Tagebuchaufzeichnungen von 1945 bis 1948. Ruth Andreas-Friedrich (1901-1977), Journalistin, Mitglied einer Widerstandsgruppe, die untergetauchte Juden versteckte.
Recherche: Jürgen Karwelat
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen