piwik no script img

Berliner TagebuchIn der Mitte zwischen Ost- und Westfront

■ Berlin vor der Befreiung: 13. April 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Nun ist es soweit, daß Berlin genau in der Mitte zwischen Ostfront und Westfront liegt, äußerte der aus Flensburg gebürtige Oberregierungsrat Wulf mit trauriger Stimme, als wir uns heute auf dem Wilhelmplatz trafen.

Er hat recht. Es sind neunzig Kilometer bis zu den Angelsachsen und neunzig Kilometer bis zu den Russen. Wenn es bisher hieß „Sowjet ante portas“, so stehen jetzt also auch die Angelsachsen „ante portas“. Die Westfront steht bei Stendal, einer Stadt, die die meisten Berliner gut kennen.

Offiziell wird immer noch vom Kampf für den Endsieg gesprochen. Aber niemand glaubt mehr an die Phrasen der Propaganda. Auch die aktiven Nazis nicht. Doch zwingt die terroristische Maschinerie der Diktatur, die die Nazis selber in Gang gesetzt haben, eben gerade auch diese Nazis dazu, mit dem furchtbaren Spiel der Lüge fortzufahren.

Weder die Nähe der Ostfront noch die Nähe der Westfront bewirken eine eigentliche Panik unter der Zivilbevölkerung. Was die „äußeren“ Feinde angeht, so sind die meisten Berliner apathisch und „stoisch“. In Wirklichkeit fürchten sie nur den „inneren“ Feind: die Nazimachthaber. Man weiß, daß der Bosheit dieser Machthaber und ihrer Werwölfe im Stadium der Verzweiflung keine Grenzen gesetzt sind. Man hat wohl Angst – aber man handelt nicht, es fehlt jede Kraft. Jacob Kronika

„Der Untergang Berlins“, Verlagshaus Christian Wolff, Flensburg-Hamburg 1946

Jacob Kronika, dänischer Journalist (1897-1982), zwischen 1932 und 1945 Berlin-Korrespondent der dänischen Zeitungen „Nationaltidende“ und „Dagens Nyheter“ sowie der schwedischen „Svenska Dagbladet“. Im nationalsozialistischen Berlin spielte er außerdem eine besondere Rolle, weil er von offizieller Seite als Sprecher der dänischen Volksgruppe in Südschleswig anerkannt war. Kronika bewegte sich daher ständig zwischen dem Vorwurf der Kollaboration und des Widerstands.

Recherche: Jürgen Karwelat

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen