Berliner Tagebuch: Entkommen
■ Berlin vor der Befreiung: 22. April 1945
Foto: J. Chaldej / Voller Ernst
Mit einem glücklichen Lächeln empfing ich den ersten russischen Soldaten, der sich in unsere Siedlung traute. Ich versuchte ein Gespräch, während er so dastand und mich anstarrte. Das klappte nicht. Er starrte mich nur an, ohne den Mund zu öffnen. Neugierig guckte er schließlich in unseren Ziegenstall. Ich bot ihm etwas zu trinken an. Er lehnte ab. Er stand nur da und starrte mich an. Ich hatte nicht die geringsten Bedenken. Am Nachmittag wagten sich andere russische Soldaten heran. Ich suchte jemanden, der meine Freude mit mit teilte.
Plötzlich trat einer von ihnen vor, riß mich am Mantel und sagte nur: „Komm, Frau, komm.“ Von irgendwoher hörte ich Schreie: „Sie vergewaltigen! Sie stehlen! Helft uns!“ Ich riß mich los. Ich begann zu rennen. Völlig außer Atem kam ich zu meiner Mutter. „Es ist also doch wahr“, sagte sie und fügte schnell hinzu, „wir müssen ihm unsere jüdische Kennkarte zeigen“, die wir im Ziegenstall „für den Tag danach“ versteckt hielten, „sie werden verstehen.“ Sie verstanden gar nichts. Sie konnten die Kennkarten noch nicht einmal lesen. An jenem Tag sprang ich noch viele Male über Hecken und Gräben, kroch durch Büsche und suchte Verstecke. Als es Abend wurde, beschlossen wir, zu unserer Wirtin ins Haus zu gehen. Die alte weißhaarige Frau würde sie vielleicht von uns abhalten. Es war kaum dunkel, da hörten wir, wie sie mit Gewehrkolben an die Türen schlugen, Frauen, die schrien, Schüsse. Sie kamen auch zu uns. Mit einer Pistole in der Hand trieb mich einer vor sich her. Meine Mutter warf sich dazwischen. Ich schrie und entkam irgendwie im Schutz der Dunkelheit. Es wurde eine schlimme Nacht. Es war klar, ich mußte mich verstecken – wieder verstecken. Inge Deutschkron
Zitiert aus: Inge Deutschkron, „Ich trug den gelben Stern“, München 1978. Die Autorin ist Schriftstellerin und Journalistin, erhielt 1995 den Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin
Recherche: Jürgen Karwelat
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