Berliner Szenen: Verschwommenes Bild
Ohne Astrid
„Wissen Sie was? Ich war Fotografin“, sagt eine ältere Frau zu mir, die im Fotoladen am Hermannplatz ihre Bilder abholt.
Sie schaut sich jedes Bild einzeln an und sagt der Verkäuferin, dass verschwommene Fotos nichts taugen. Aber eigentlich sei daran ja ihre Augenärztin schuld, sie trage einfach die falsche Brille. Die Verkäuferin nickt verständnisvoll. Hinter der Frau stehend, sehe ich, dass die Frau vor allem Blumen fotografiert. Verschwommene Blumen, ich finde sie schön.
Als sie mich anspricht, warten die Frau und ich unter dem Dach vor dem Laden darauf, dass der Regen weniger wird. „Bis 2003 war ich Fotografin. Dann wurde mein Bruder ermordet und ich habe aufgehört“, sagt sie. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden vergehen, ohne dass ich Worte finde. „Das tut mir leid“, sage ich schließlich. „Zum Glück habe ich meine Schwester Astrid, sie hilft mir“, erzählt sie weiter. Ob sie jetzt wieder Fotos mache, frage ich und zeige auf den bunten Fotoumschlag, den sie immer noch in der Hand hält „Ja, das mache ich“, sagt sie. „Das ist gut“, sage ich.
Dann wechseln wir zum Wetter, denn der Regen wird immer stärker. Bei Unwetter sei es in Ordnung, zu spät zur Arbeit zu kommen, meint sie, weil ich mir darüber Sorgen mache, dass ich noch am Hermannplatz feststeckte und gleich eine Sitzung habe.
Einmal sei sie eine Stunde zu spät zu einem wichtigen Termin gegangen, weil sie nicht aus dem Haus konnte. Im Saarland sei das gewesen, wo sie herkomme, und Astrid habe angerufen und Bescheid gegeben, dass sie Verspätung wegen des Unwetters hatte. „Ohne Astrid wüsste ich nicht, was ich machen sollte.“ Eine Weile sagen wir nichts mehr. Dann verabschieden wir uns. Aus dem U-Bahn-Schacht hinaus sehe ich noch, wie sie langsam die Karl-Marx-Straße entlanggeht.
Luciana Ferrando
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