Berliner Szenen: Mein Freund, der Baum
Leiche vorm Haus
Seit längerer Zeit denke ich täglich an ein Lied der Sängerin Alexandra, die in den 1960er Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. „Mein Freund, der Baum, ist tot.“ Denn eines Morgens lag der junge Baum auf der Wiese hinter meinem Haus, wie von Geisterhand oder einem nächtlichen Sturm gefällt, auf dem Boden, die dünnen Äste von sich gestreckt, die Wurzeln anklagend in die Luft gerichtet. „Mein Freund, der Baum, ist tot. Er fiel im frühen Morgenrot. Du fielst heut früh, ich kam zu spät, du wirst dich nie im Wind mehr wiegen, du musst gefällt am Wegrand liegen.“ Ich kenne den Text des Liedes auswendig. Mein Vater kaufte zu DDR-Zeiten zum Entsetzen der gesamten Familie eine Schallplatte der Sängerin im Intershop. Wir wollten Jeans und Kaugummi und mein Vater kaufte eine Platte von toten Bäumen! „Mein Freund, der Baum, ist tot. Und mancher der vorübergeht, der achtet nicht den Rest von Leben und reist an deinen grünen Zweigen, die sterbend sich zur Erde neigen.“
Von meinem Küchenfenster in der 4. Etage beobachte ich, wie Männer und Frauen stehen bleiben, die Baumleiche betrachten und weitergehen. Kinder sind ungenierter. Kleine Jungs brechen Äste ab und spielen Ritterspiele, kleine Mädchen balancieren auf dem Rumpf. „Bald wächst ein Haus aus Glas und Steinen, dort wo man ihn hat abgeschlagen. Bald werden graue Mauern ragen, dort wo er liegt im Sonnenschein.“ Diese musikalische Prophezeiung wird sicher nicht in Erfüllung gehen. Denn neben dem toten Baum steht schon ein Haus. „Vielleicht wird es ein Wunder geben, ich werde heimlich darauf warten, vielleicht blüht vor dem Haus ein Garten und er erwacht zu neuem Leben.“ Nun warte ich auf ein Wunder.
Barbara Bollwahn
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