Berliner Szenen: In der U-Bahn
Alte Liebe
Ich steige Alexanderplatz in die U5. Es ist eine dieser neuen Bahnen, die langgezogene Bänke haben statt Vierersitze. Neben mir liest eine Frau mittleren Alters ein E-Book. „22 Stunden bis Plymouth“. Sie drückt sehr oft die Seiten weiter. Oder nicht oft, sondern schnell. Ich sehe einer Rothaarigen mit türkisfarbener Wollmütze ins Gesicht, sie erwidert den Blick, worauf ich unmittelbar gähnen muss. Ein Gitarrenspieler steigt zu. Wie immer ist der Reflex: bitte nicht. Er spielt eine mir unbekannte Weise, die nach Balkan klingt. Zwei Stationen später hört er auf und geht herum, um Geld einzusammeln.
An einer der Türen steht eine junge Italienerin mit Mops. Sie redet in ihr Handy, ihr Mops steht unten und rührt sich nicht, sondern starrt vor sich hin, hält die Fahrt und die Menschen aus. Eine nicht unattraktive, junge Exturnerin trägt ein Frei.Wild-T-Shirt. Sie hat das Bild von ihrer MRT auf ihrem Smartphone dabei und zeigt es ihrem Sitznachbarn.
Ein offenbar Verwirrter betritt die Bahn. „Was macht man hier?“, fragt er in die Runde. „Man setzt sich und hält die Klappe“, sagt ein Junge. Dann steigt J. ein. Sie erkennt mich nicht. Eine alte Liebe in der U5, ohne Blickkontakt. Sie hält sich an einer Stange fest. Sie sieht müde und verbraucht aus, wie die schlechte Kopie einer anderen, begehrenswerteren Frau.
Dann höre ich ein Summen. Erst ist es der Herr links von mir, der summt. Was es ist, kann ich nicht bestimmen. Er trägt Glatze, so wie ich, eine Nickelbrille, er ist kleiner und steigt ernst und mit hängenden Schultern an der nächsten Haltestelle aus.
Dann ist es die junge Frau links von mir, die summt. Sie trägt eine Art Minnie-Maus-Outfit, nur ohne Haarschleife, und kreuzt die Beine über dem Sitz. Vielleicht ist es etwas aus „La La Land!“. Ich bin mir nicht sicher. René Hamann
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