Berliner Szenen: Über das Warten
Stoisch in der Tram
Ob man telefoniert oder Tram fährt: Klüger ist man erst danach. Ich rief mal bei einer Hotline von meinem Handy-Tarif-Anbieter an, weil ich was fragen wollte. Eine Stimme vom Automaten sagte, dass die voraussichtliche Wartezeit eine Minute betragen würde. Nach zehn Minuten überlegte ich aufzulegen. Aber dann dachte ich: Vielleicht würde in dem Moment jemand antworten können, wenn ich aufgelegt habe. Und ich wollte nicht umsonst gewartet haben. Auch die nächsten zwanzigMinuten dachte ich das, bisdie Verbindung zusammenbrach.
Als ich neulich an der Warschauer Straße in die Tram rannte, war ich froh, sie noch erwischt zu haben. Aber die Tram fuhr nicht los. Der Tram-Fahrer stieg mehrmals aus, lief nach hinten, kam zurück. Ich wollte zum Frankfurter Tor und dachte: Wenn das noch lange geht, kann ich auch zu Fuß gehen. Aber dann dachte ich: Was, wenn ich jetzt aussteige, und im nächsten Moment fährt die Tram los und überholt mich vergnügt? Ich dachte an den blöden O2-Automaten-Anruf, wusste aber nicht, ob ich daraus die Lehre ziehen sollte, jetzt auszusteigen als empörter Kunde oder drinzubleiben als stoischer Philosoph. Ich blieb in der Tram, aber genervt, nicht stoisch. Dabei beobachtete ich einen Mann, der sich auf seinem Sitzplatz fläzte wie vorm Fernseher, in der Hand hielt er ein groschenheftgroßes Tablet, auf dem ein Spiel lief. Er steuerte mit seinen Wisch-Fingern Rennwagen, unter Brücken durch, an Städten vorbei. Kam ein Wagen an die Leitplanke, sprühte er orangefarbene Funken.
Nach etwa zwanzig Minuten fuhr die Tram los, ohne Funken. Am Frankfurter Tor stieg ich aus und überlegte, ob ich zu Fuß genauso schnell gewesen wäre oder schneller oder langsamer. Dann entschied ich, nicht mehr darüber nachzudenken, und kam mir ganz philosophisch vor. Giuseppe Pitronaci
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