Berliner Szenen: In der Fahrschule
Totes Wildschwein
Fahrlehrerinnen hätten sie leider nicht, sagt die Rezeptionistin der Neuköllner Fahrschule und lacht. „Im Moment nur Männer“, sagt sie. Sie schaltet den Film, den sie im Computer guckte, aus und schiebt ihre Schminksachen zur Seite, um alles auf einem Zettel besser erklären zu können.
Es war kein Vorsatz für das neue Jahr, sondern eine ganz spontane Aktion. Ich wollte mich nur informieren, und doch bezahle ich und melde mich in der Fahrschule sofort an: Seit langer Zeit träume ich davon, den Führerschein zu machen.
In zehn Minuten geht eine Theoriestunde los. Ob ich direkt bleiben möchte, fragt die Rezeptionistin. Ich sage natürlich ja und warte kurz vor der Tür. „Sorry, ich habe einen Kurs, rufe dich später an“, schreibe ich der Freundin, mit der ich verabredet war.
Die anderen SchülerInnen kommen gleichzeitig an. Jugendliche aus dem Kiez: Jungen mit Käppi und Lederjacke, Mädels mit falschen Louis-Vuitton-Taschen und künstlichen Fingernägeln. Dabei sind auch eine sehr reservierte junge Frau und ein Gasthörer, der in zweiter Reihe sitzt und nur „wir gehören zusammen“ sagt. Dem Lehrer reicht die Erklärung, und die Powerpointpräsentation mit den „besonderen Fällen im Verkehr“ fängt an. „Was macht man, wenn man gegen ein geparktes Auto fährt und niemand da ist?“ „Abhauen?“, sagt der Junge, der ununterbrochen auf sein Handy guckt. „Was ist bei Wild überfahren?“ „Mahlzeit?“, sagt überraschenderweise die Schüchterne und löst bei den anderen einen Lachanfall aus, und so geht es weiter. Ich finde sie alle lustig und gewöhne mich schnell an die neue technische Sprache.
Die Rezeptionistin erscheint wieder, angekleidet mit einem weinroten Kleid, wie für eine Hochzeit. Sie zieht ihren Pelzmantel mit der Pelzmütze dazu an und verabschiedet sich. Niemand grüßt zurück, denn gerade wird diskutiert, was mit einem toten Wildschwein auf der Landstraße zu tun ist. Es riecht nach Parfüm. Ich fühle mich glücklich. Luciana Ferrando
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