Berliner Szenen: In der Bibliothek
Dumm, oder?
Ein Bibliotheksbesucher lacht vor seinem Bildschirm lauter, als man normalerweise in der Bibliothek lacht. Drei, vier Mal. Ein Lachen ist etwas, das man nicht so oft in der Bibliothek zu hören kriegt, fällt mir auf. Jugendliche lachen dort, stimmt, aber sie machen sowieso alles, was man in der Bibliothek nicht macht.
Ich vermute, dass der Mann gerade so viel Spaß hat, dass ihm alle Konventionen egal sind. Ich finde das gut und frage mich, warum ich so angepasst bin, dass ich mich nicht mehr traue, so zu lachen wie der Herr da. Es erleichtert mich, dass jemand das macht: die Normalität mit Kleinigkeiten zu durchbrechen. Als die Frau neben ihm ihren Kopf mit einem „Hallo?“-Blick zu ihm dreht, gucke ich sie auch doof an. „Spaß verboten?“, versuche ich sie mit meinem Blick zu fragen.
Doch der Mann lacht nicht aus Spaß. Sein Lachen wird bitterer. Er steht auf und sagt: „Dumm, dumm, dumm, dumm. Der Mensch ist dumm. Hat sich selber verdummt.“ Ich sehe die Anti-Spaß-Frau an, als ob sie wissen würde, wie man in so einer Situation reagiert. Die Frau schaut aber nur noch ihren Bildschirm an.
„Haben Sie Probleme? Mir geht’s gut, mir egal!“, sagt der Mann, die Augen voller Tränen. „Alle wollen nur profitieren.“ Ein Tischnachbar bricht in Gelächter aus. „Ist das dumm, oder? Und ich bin der Allerdümmste, nicht wahr?“ Der Mann wartet, es kommt keine Antwort, nicht von mir, nicht von jemandem anders. Noch einmal lacht der Nachbar, als ob wir in einer Stand-Up-Comedy wären und er Mitleid mit einem unlustigen Komiker hätte. Der Mann geht. Alle tippen weiter, ich fühle mich schrecklich.
Er kommt zurück. Er hat etwas vergessen. Er nimmt seine Zettel und klopf dem Tischnachbarn sanft auf dem Arm. „Und du? Du bist einfach auch dumm!“ Luciana Ferrando
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