Berliner Szenen: Make-Up-Allergie
Stewardessenkrank
Es sind Wutwochen. Die Liebste sitzt wütend am Küchentisch (60er Jahre, 600 Euro). Sie ist ein ordoliberales Gerät. Worüber sie wütend ist? Sagt sie nicht. Sie hat bis jetzt nur die Sonnenseite gesehen. Nur die Sonnenseite.
Vielleicht ist sie über ihre Stewardessenkrankheit wütend. Sie sitzt in der Küche an einem Samstagabend und ist stewardessenkrank. Das heißt, sie hat einen Ausschlag, der davon kommt, dass sie zu viel Make-up trägt gegen den Ausschlag, den sie schon hat. Eine Art später Akne für eine Art spätes Mädchen. Eine Make-up-Allergie, die nicht mehr zu übertünchen ist. Jetzt will sie sich nirgendwo mehr blicken lassen, sie will nicht mehr gesehen werden, auf keinen Fall in der Öffentlichkeit und möglichst auch nicht von mir, denn sie hat einen Ausschlag und darf sich für Wochen nicht schminken.
An ihre Haut darf nur noch Wasser und keine CD. Ich schalte das Radio ein. Der junge Robert Smith singt eine alte Weise, ein Kitchen-Sink-Drama über Liebeskummer. „10.15 Saturday night“. Ich überlege, ob ich mich auf die Spüle setzen soll. In das Spülbecken hinein. Und mich langsam betropfen lasse. Nehme aber doch lieber den Stuhl (60er Jahre, 200 Euro). Auf dem Küchentisch stehen zwei Bier, zwei Rhabarbersaft, Schokolade und Kartoffelchips (mit aufgedrucktem Slogan: „Jetzt für immer!“).
„Jahrhundertelang wurde die Frau zur Tugend erzogen“, sagt eine Frau im Radio mit österreichischem Akzent. Demzufolge falle es vielen schwer, zwischen ihren Gefühlen und ihrem Körper zu unterscheiden. Die Liebste schaut müde aus. Es fällt ihr schwer, mich anzulächeln. Sie, die im Treppenhaus immer die Wand entlanggeht, immer möglichst nah an der Wand. Sie, die keine Rolltreppen benutzen kann, Angst vor Rolltreppen. Sie ist stewardessenkrank. Morgen geht ihr Flieger in den Süden. René Hamann
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