Berliner Szenen: Letzte Haut
Starkes Verlangen
Morgens begegnet mir eine Frau, die drei kleine Narben hat, die sich über ihren linken Ellenbogen ziehen. Abends sitze ich im Haus der Berliner Festspiele neben einer Frau, auf deren Oberschenkel sich ein Muttermal gebildet hat, das mich an meine erste Freundin erinnert. Sie hatte auch so ein Muttermal auf dem Oberschenkel. Dieses Muttermal löste ein Verlangen aus, das mich erstaunte: Wie sie damals nur etwas Haut zeigen musste, Haut, die ich ja bereits gut kannte, sodass mein Verlangen automatisch kam. Und wie stark es war. Stark und automatisch. Am Ende dieser Überlegungen entdeckte ich, dass auch sie, meine jetzige, mir unbekannte Sitznachbarin, eine kleine Narbe hat, die sich über ihren linken Ellenbogen zieht.
Ein milder Frühherbsttag, und es fällt auf, wie viel Körperfläche man noch zu sehen bekommt, Füße (in Flipflops), Füße (in Sandalen) und jede Menge Tätowierungen. Legitimieren diese das unverhohlene Studieren der Haut? Darf man auf die Oberschenkel starren, da sie verziert sind? Mir fällt das Wort Tintlinge ein, einer der Vorschläge zum „Jugendwort des Jahres“. Tintlinge allerorten.
Auf dem Weg zurück folge ich unabsichtlich einer Frau über den Fasanenplatz: Wir haben dieselbe Richtung. Irgendwann erkenne ich, dass ich mich verlaufen haben muss. Ich drehe mich um, wie auf Google Streetview, um mich zu orientieren. Die Frau verschwindet und taucht wenig später am Ku’damm wieder auf. „Follow your nature“ steht dort auf einem Schaufenster.
In der Bahn nach Hause beobachte ich einen Tintling. Eine junge Frau mit Brille, die Strumpfhosen über ihre Zeichen gezogen hat. Ich erkenne sie trotzdem: ein Fisch, der sich in einen alten Mann mit Bart verwandelt (oder umgekehrt). Ein Fischmann. Neben mir liest ein Mann Anna Seghers’ Roman „Transit“. René Hamann
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