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Berliner SzenenWencke singt

So ist das Leben

Leise schnurrte das Hybridfahrzeug durch die Nacht

Als ich endlich im Taxi saß, das mir wie eine letzte Dekadenz erschien, quäkte aus dem Autoradio der Schlager: „So ist das Leben, keep smiling.“ Ich bin in einem Schlagerhaushalt aufgewachsen, aber den kannte ich nicht. Seine Musik war schrecklich – ich wollte mich ohnehin gerade in schwarzen Gedanken ergehen. Welt schlecht, Musik furchtbar, die BVG ein Skandalunternehmen – dass man sonntags um 0.45 Uhr nicht mehr vom Alex mit der U8 nach Neukölln kommt, ist ja echt nicht zu fassen. Wo lebe ich eigentlich?

Und dann finde mal jemand die Nachtbushaltestelle. Falls es die am Alexanderplatz überhaupt gibt. Ausgeschildert ist sie jedenfalls nicht – „Bus“ ja, Nachtbus nein. Und „Bus“ kann den Schildern nach überall sein.

Aber wie singt Wencke Myh­re? „So ist das Leben, keep smiling.“ Besonders passend ist die erste Strophe: „Wenn dieser Tag nicht dein Freund ist/ Weil du alles um dich grau in grau siehst – ahaha/ Such einen Blick in der Menge/ Schick ein Lächeln in das Stadtgedränge – ahaha.“ Gut, die Blicke in die Menge konnte ich jetzt nicht mehr schicken. Und vorher habe ich im Grunde auch nur meine Sitznachbarin angeschaut – oder den Blick auf die Leinwand gerichtet. Als ich in der Kulturbrauerei die Kinotreppe hinaufgegangen war, um den guten Journalistenfilm „Spotlight“ mit dem Thema Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zu sehen, schallte es dort „Step by step, ooh baby“ durch den Raum.

Also gut, dachte ich, alle halbe Jahre kann man sich ja mal so ein Taxi gönnen. Das Hybridfahrzeug schnurrte leise durch die Berliner Nacht; der Fahrer passte sich der Stille an, durch die nur noch Wenke Myhre sang. Er fuhr die schnellste Strecke – keine Umwege, keine unnötigen roten Ampeln, keine Taxameterschinderei. Taxifahrer mit Schlagersendern – besser als ihr Ruf. René Hamann

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