Berliner Szenen: Durchs Grüne Meer
Wirklich erfrischend
Das grüne Meer durchquere ich manchmal auf dem Weg zur Arbeit und zurück. Genau genommen ist es nur ein schmaler Weg, den ich zur Abkürzung mit dem Fahrrad nehme. Unter alten Bäumen verläuft er parallel zur Trasse einer vor Jahrzehnten stillgelegten Industriebahnlinie, auf der seitdem Kleingärten gewachsen sind.
Besonders schön ist der Weg an Sommerabenden, wenn die Sonne tief im Westen steht. Man fährt dann selbst schon im Schatten, aber weiter oben strahlen die Stämme der Pappeln und Eichen in sattem gelben Licht. In der Dämmerung begegnet man hier öfters einem Fuchs. Wenn es noch später ist, auch mal einem Waschbären, aber dann ist es mir meist auch schon zu dunkel, denn meine kleine LED-Lampe dringt nicht durch die Finsternis.
Die Metapher mit dem Meer benutze ich so für mich, weil sich die Vegetation an den Wegrändern gegen die Jahresmitte wie zu zwei Wellenkämmen auftürmt – in Superzeitlupe natürlich. Brennnesseln, Brombeerranken und anderes Gesträuch wachsen erst vorsichtig, dann doch erstaunlich schnell zu grünen Wänden, aus denen lange Sprossen von wildem Hopfen züngeln. Der Weg dazwischen wird täglich schmaler, und fährt man mit kurzen Hosen, beißen einen die Brennnesseln ins Bein. Bevor alles in der Mitte lautlos aufeinanderprallt, fährt das Grünflächenamt mit irgendeiner Schermaschine durch und teilt die Fluten.
Dieses Jahr kam das Amt zu spät, vielleicht fehlte auch Personal. Ich fuhr den Weg nach einer längeren Pause, zu Beginn konnte ich mich noch durchschlängeln, dann schloss sich das Dickicht vor mir. Umdrehen? Dafür war es jetzt auch zu eng. Tempo erhöhen und durch.
Der Morgen war schwül, in der Nacht hatte es heftig geregnet. Als ich aus der grünen Gischt auftauchte, war ich klatschnass. Erfrischend, so ein morgendlicher Sprung ins Meer! Claudius Prößer
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