Berliner Szenen: Unter Nachbarn
Gesichter merken
„Du schon wieder“, sagt die Frau im Hausflur und lächelt mich an. „Ja“, sag ich und lächle zurück, etwas angestrengt zwar, aber ich lächle. „Wohnst du auch hier?“, fragt sie. – „Ja.“ – „Ist ja lustig.“ Sie schließt ihr Fahrradschloss auf. „Dann sind wir Nachbarn.“ – „Ja“, sag ich, ein drittes Mal. „Ja“, und ich meine es auch. Nachbarn, lustig, von mir aus auch noch viel mehr könnten wir sein, diese Frau und ich, wenn mir nur einfallen würde, wer sie eigentlich ist. Aber das fällt mir nicht ein, sosehr ich auch grübele und sosehr ich auch starre, ihr direkt ins Gesicht: Vollkommen unbekannt ist sie mir. Ich starre trotzdem, weil kann ja doch sein, dass ich sie kenne.
Kurz lässt sie sich anstarren, die Frau, dann nickt sie mir zu. „Na dann“, sagt sie und schiebt ihr Rad an mir vorbei. Ich nicke zurück und schaue ihr nach, versuch mir alles einzuprägen an ihr: ihren Gang, wie sie den Arm hebt, den linken, die Tür aufzieht damit, wie sie aufsteigt und losfährt. Vielleicht kann ich mir ja so was merken statt die Gesichter der Menschen.
Kann ich nicht. Kurz später steh ich beim Bäcker, als schon wieder wer kommt und mich kennt. „Mensch, Joey!“, ruft die Frau vor mir in der Schlange und schüttelt den Kopf. „Ja?“, frag ich und krame in meinem Gedächtnis, auch wenn das vollkommen sinnlos ist. Ich kenne die Frau nicht.
„Das dritte Mal heute!“, sagt sie. – „Das dritte Mal?“ Sie schaut mich an, als wär ich nicht mehr ganz dicht. „Erst im Laden, dann grad eben im Haus und jetzt hier“, zählt sie auf. Ich werde rot. Dass ich mir so schlecht Gesichter merke, noch nicht mal von 8 Uhr auf 10 und dann auf 10.30 Uhr ist schon ziemlich schlimm, finde ich.
Sie findet das auch und wendet sich ab. „Zwiebelbrot, bitte“, bestellt sie. „Vier Stück.“ Zwiebelbrot, vier Stück – so was merke ich mir garantiert. Nur Gesichter leider nicht, noch nie. Ziemlich schlimm, da hat sie recht. Joey Juschka
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