Berliner Szenen: Ein Anstandsgekotze
Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier.
Wedding weit nach Mitternacht. Der M 27 hat gerade die Reinickendorfer Straße hinter sich gelassen, da lallt es: „Könnden Sie bitte an der nächsten Station anhalten?“ Ein Mann hangelt sich den Gang entlang. „Aber natürlich“, ruft’s vom Fahrersitz. An der Tür angekommen, presst der Wankende sein Gesicht gegen die Scheibe. „Oh, tud mir leid. Doch noch weiter. Hab Kobbschmerzen. Zu viel geraucht.“ Man riecht’s. „Kein Problem“, kommt von vorn. „Dange, dass Sie sich um mich kümmern.“ Wieder antwortet der Fahrer: „Aber gern. Kein Problem.“ Ihr Pingpong der Höflichkeiten dauert noch eine Weile an. „Dange“ und „Bitte sehr“ springen zwischen beiden hin und her.
Etliche Minuten später biegt der Bus in die Turmstraße ein. Türen öffnen sich, zum Abschied wird gewunken. Nette Worte, schöne Floskeln: Ich bin verwirrt. Hier lief gerade etwas falsch, und das gewaltig. Vor Kurzem sagte man noch: „Ey Alder. Gras ist aus, mein Schädel fickt. Halt endlich an!“ Entnervte Betrunkene, bekiffte Störenfriede, allesamt herrlich abgestürzt und suchend – nach Niveau und sich selbst: Genau das war Berlin, zumindest nachts. Ich mochte die unbekannten Mitfahrer und deren kleine Dramen. Ob kopflos und feierfreudig, weil frisch getrennt oder ehrlich verzweifelt: Das, was in Bussen, U- und S-Bahnen dargeboten wurde, war besser als Kino.
Doch seit geraumer Zeit ist nichts mehr wie zuvor. Das Nachtvolk hat sich verändert. Zum Positiven, würden manche meinen. Mir aber ist die Überdosis Höflichkeit nicht ganz geheuer. Der neue Absturz ist kultiviert. Rausch macht nett, gekotzt wird nur noch hinterm Baum. Es wird gelächelt, genickt, gelangweilt. Neun Haltestellen später hüpfe ich aus dem Bus. Es schüttet. Ich muss grinsen: Wenigstens auf das Wetter ist Verlass. Lieber Regen, danke für deinen nasskalten Mittelfinger!
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