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Archiv-Artikel

Berliner Platten Als Krankenschwester im internationalen Tanzbodenzirkus sorgt Miss Kittin in ihren DJ-Sets notfalls sogar für etwas Heimeligkeit

Miss Kittin: „Live at Sonar“ (Sonarmusic/Labels/Virgin)

Der DJ, so heißt es in einem berühmten Song, was längst zum geflügelten Wort geworden ist, vermag es des Nachts Leben zu retten. Miss Kittin ist DJ, auch Miss Kittin hat womöglich schon Leben gerettet. Einmal aber, da nahm Miss Kittin ein Leben. Ein prominentes. Das Leben von Frank Sinatra.

Ol’ Blue Eyes war noch recht lebendig, als 1998 „Frank Sinatra“ von Miss Kittin und ihrem Dauerpartner The Hacker erschien. Schnell eroberte der Track die internationalen Tanzböden. Über pumpenden Beats hauchte Miss Kittin einen Text, der in der Behauptung gipfelte „He’s dead“. Wenige Monate später starb Frank Sinatra in einem Krankenhaus in Los Angeles. Seitdem hat Miss Kittin den alten Eurythmics-Gassenhauer „Sweet Dreams“ mit Erfolg aufpoliert, die Krankenschwestertracht in den internationalen Tanzbodenzirkus eingeführt, mit Sven Väth noch einmal „Je t’aime“ gestöhnt, betrunken für T.Raumschmiere geschrien, sich von Karl Lagerfeld fotografieren lassen, fast überall aufgelegt und mit nahezu jedermann gearbeitet. So erfolgreich brachte Caroline Herve das Modell Diva hinters DJ-Pult, dass sie zwar noch nicht so legendär wie ihr berühmtes Opfer, aber immerhin Berlins zweitprominenteste Schweizerin wurde – nach Shawne Fielding, und die ist ja nicht mal eine richtige Schweizerin. Dieser Status wurde 2004 zementiert mit ihrem ersten wirklichen Solo-Album nach verschiedenen Mix-Alben: „I Com“ wurde als zeitgemäßes Popalbum gelobt.

Seitdem fährt sie die Ernte ein und absolviert, aber nun als Star, die einschlägigen DJ-Reisen um den Globus. Natürlich darf Miss Kittin auch auf dem Sonar Festival nicht fehlen, wenn alljährlich in Barcelona – tapfer gegen den aktuellen Trend – die Bedeutung der elektronischen Musik gefeiert wird. „Live at Sonar“ dokumentiert ihren dortigen Auftritt im Juni 2005, in dem sie neben Stücken von Aphex Twin, Arpanet oder Philus mehrheitlich eigene Tracks auflegt, wenn auch meist in Bearbeitungen von Kollegen. Ihr Sprechgesang, längst zum belastenden Markenzeichen verkommen, kommt allerdings kaum vor – wohl nicht unabsichtlich, war Herve doch in den letzten Jahren bemüht, ihr Image wieder in Richtung ihrer DJ-Künste zu rücken.

So beweist „Live at Sonar“ denn vor allem Altbekanntes: Dass Miss Kittin ihr Handwerk beherrscht und in der Lage ist, ein volles Zelt an einem katalanischen Sommernachmittag durch sämtliche verfügbaren Gefühlslagen zu schicken. Vom technokratischen Funk von „Masterplan“ geht es über die zerhackten Breakbeats von „Requiem For A Hit“ im 2 Many DJ’s Remix bis zum stumpf pumpenden Techno von Ricardo Villalobos’ „Dexter“. Streikende Technik unterbricht „Stock Exchange“, und einen Moment schält sich aus dem metallischen Kittin-Sound sogar ein heimeliges Woodstock-Gefühl. Den abschließenden Kontrapunkt schließlich bildet der träumerische Boards-of-Canada-Remix von Boom Bips „Last Walk Around Mirror Lake“, ein Track, der in dieser Version problemlos zum Requiem für ältere Herren taugt. THOMAS WINKLER