Berliner Platten : Wider das Weihnachtsgeklingel: Jazz zur Ohren-Reanimation
Überall Weihnachtsgeträller, Glöckchenklingeln und weich gespülte Verkaufsmusik: Berlins öffentliche Plätze mutieren im Dezember zu musikalischen Vorhöfen der Hölle. Da hilft nur der straighte Rückzug in die eigenen vier Wände. In der Tasche zwei Berliner Jazzplatten, die beweisen, dass in dieser Stadt auch viel Kreatives und musikalisch Ausgefallenes passiert. Zu Hause angekommen, heißt es Fenster zu und Ohren auf.
Das Album [em] II des Berliner Trios [em] enthält so viel kleine und große Musikabenteuer, dass sich genaues Hinhören lohnt. Die Bassistin Eva Kruse, der Pianist Michael Wollny und der Schlagzeuger Eric Schäfer laden ein zu einer berauschenden Reise quer durch ihre Musiksozialisation: Da trifft der Drum-&-Bass-Elektroniker Squarepusher auf den russischen Komponisten Sergej Prokofjew, und beide zusammen prallen gegen den Hiphopper Snoop und die isländische Exzentrikerin Björk. [em] lieben Experimente und sind angetreten wider die musikalische Langeweile. Neugierig, unkonventionell und sehr gut ausgebildet eröffnen die drei Musiker Räume, in denen plötzlich alles passieren kann: Vom einfachsten C-Dur-Popakkord bis zum disharmonischsten Cluster. Denn wie Eva Kruse erklärte: „Egal ob Uptime-Swing oder einfache Popgrooves: Das Wichtigste ist, dass die Stücke für uns das gewisse Etwas haben.“ [em] spielen frei von belastenden Konventionen, Vorgaben und Erwartungshaltungen anderer. So intuitiv sie musikalisch vorgehen, so emotional mitgerissen wird man als Zuhörer. Wild-motivierend wirkt etwa das passend betitelte Stück „Phlegma Phiter“. Andere wie „Schneefall“ erfüllen einen mit tiefster Ruhe. Diese Platte kann man tausendmal hören und wird trotzdem immer Neues in ihr entdecken. Langweilig wird es nie.
Das gilt auch für das Album „…Fire!“ der Band Johnny La Marama. Der finnische Gitarrist Kalle Kalima, der amerikanische Bassist Chris Dahlgren und auch hier wieder der Schlagzeuger Eric Schäfer taten sich zusammen, um ein großes Abenteuer zu erfinden: die Geschichte des tragisch-komischen Johnny La Marama. Die Platte „…Fire!“ erinnert in ihrem Wahnsinn spontan an Frank Zappa und die Experimentalisten der Mike-Patton-Band Mr. Bungle. Hier bleibt niemand verschont. Ob Hardrockgitarreneinschübe oder ein Schlagzeug in bester Hardcore-Tradition: Glaubt man sich für einen kurzen Moment in vermeintlich erkannten Referenzen sicher, sind die Jungs schon wieder einen Schritt weiter, irgendwohin unterwegs mit Johnny. Diese Platte ist voll von dadaistischem Humor und anarchistischer Spielfreude; ergänzt durch Gesungenes und Gesprochenes, mal näselnd à la Primus-Sänger Les Claypool, mal dunkel-lebenserfahren wie Darkfolker Hugo Race.
Es passt, dass Johnny La Marama beim Berliner Label Traumton erscheint: Die kleine Plattenfirma kümmert sich um Künstler, die mit gängigen Konventionen brechen. Und solche Musik braucht es ganz besonders in der Dezemberzeit: zur Reanimation der fast taub gewünschten Ohren. Veronika Wallner