Berliner Ökonomie: Erlebnisbericht aus der Nasszelle
Was die Moskauer U-Bahn mit dem Schamhaarausfall der Bourgeoisie und dem deutschen Gully-Sonderweg zu tun hat.
Die Künstlerszene lässt sich für den Kunsthistoriker Pavel Pepperstejn in zwei Existenzformen unterteilen: das "Zellendasein" und das "Gemeinschaftsleben". Er führt diese Teilung auf christliche "Eremiten/Mönche" und "Priester" zurück, die er auch noch im Kommunismus wiedererkennt: in "Stalins Kabinett" einerseits und den "Massenbewegungen" andererseits. Eine Aufteilung, die er auch auf die Öffentlichkeit der Sowjetunion überträgt. Die "Verkehrsräume", so Pepperstejn, seien sakralisiert und gleichsam als neue "Kathedralen" für das Gemeinschaftsleben errichtet worden: die Moskauer Metro, Bahnhöfe, Kanäle usw. Er zählt dazu auch die gelenkten Besucherschlangen auf dem Roten Platz, die sich nach unten ins Lenin-Mausoleum bewegen - so quasi "durch den Darm der Initiation schieben". Zur sowjetischen Öffentlichkeit gehörten ihm ferner die Zeitungen, die hernach als Toilettenpapier benutzt wurden. In der Einsamkeit der Klozelle wiederum habe das eine "besondere Art des analen Lesens und der analen Information" erzeugt.
Hierbei verband sich ihm Gemeinschaftlichkeit mit Privatheit. Für Pepperstejn ist "die Welt der Toilette in einer Stadtwohnung die maximale Variante der stillen Zurückgezogenheit". Im Gegensatz zu den Künstlern, die ein "Gemeinschaftsleben" führen (wollen), besteht das "Zellendasein" ihrer Kollegen darin, dass sie die Medien meiden und gewissermaßen "ständig auf dem Klo sitzen". Dabei kommunizieren sie mit der Öffentlichkeit nicht in der "mentalen Horizontalen", sondern eher in der "mentalen Vertikalen" - wobei sie "das Kanalisationssystem in den Häusern der Stadt" imitieren.
In seinem Roman "Die Enden der Parabel" hat Thomas Pynchon diese exkrementale Initiation mit ihrer ganzen schmutzigen Verlaufsform und anschließenden Unsterblichkeit am Beispiel von "Byron, der Glühbirne" durchgespült. Und Sigmund Freud kam bei seinen Analysen der bürgerlichen Psyche und ihrer von allen Exkrementen säuberlich abgesonderten Sozialisation zu dem Schluss, dass es dabei, speziell in der analen Phase, zu einer fatalen Verschiebung von Scheiße zu Geld komme, das nun zurückgehalten werde. Noch in der Studentenbewegung tat man Leute, die übergroßen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legten, als "Analkacker" ab.
Mit der neuen Wellness-Bewegung und ausufernden Nasszellen-Kultur ist ein solcher Charakter nun fast (wieder) erstrebenswert geworden. In Ostberlin ließ man 1990 im Batteriewerk Oberschöneweide das geräumte Büro des Parteisekretärs als Erstes zu einem so genannten "Investorenscheißhaus" umbauen. Der Raum wurde spanisch gekachelt und mit Topfpalmen dekoriert. Die Spülung der Pissbecken funktionierte automatisch über Lichtsensoren. Dieser Einzug von Hightech in den "stillen Ort" galt dem Philosophen Jean-Francois Lyotard als Signum der Postmoderne. Er begegnete ihm erstmalig 1980 auf der Toilette des Fachbereichs Informatik der Universität Aarhus, wo er ihn als "neue Aussage" begriff.
Im Osten wurden nach der Wende Millionen Privatkredite zur Modernisierung von Toiletten ausgegeben. Ganze Kommunen ruinierten sich mit dem Bau von überdimensionierten Kläranlagen sowie neuer Kanalisation. Ganz Deutschland ist seit dieser gigantischen, nachgeholten Aufrüstung des Sanitärbereichs quasi "analfixiert". In Autobahntoiletten wird neuerdings jede etwa zweistündige Reinigung schriftlich für den Benutzer dokumentiert. Und unterbezahlte ausländische Putzfrauen beschreiben in ihren Erlebnisberichten die unappetitlichsten Details der Nasszellen ihrer neureichen Arbeitgeber.
Zuletzt bemerkte die amerikanische Professorin und Kurzzeit-Putzfrau Barbara Ehrenreich nach der Entfernung von regelrechten Schamhaarbüscheln aus den Jacuzibädern ihrer Auftraggeber, dass die Bourgeoisie geradezu epidemisch von Schamhaarausfall befallen sei. Inzwischen ist die Körper- und Schamhaarrasur modisch bis in die untersten Klassen gedrungen. Da, wo es kein Sitzbad in den Nasszellen gibt, wird das Haar in der Toilette weggespült, wobei man es in der Schüssel noch einmal kontrolliert. Das ist jedoch nur hierzulande möglich, das heißt, wenn man noch einen der einst von den Nationalsozialisten favorisierten "Flachspüler" benutzt und keinen Tiefspüler wie alle anderen Völker. Der korsische Nasszellenforscher Guillaume Paoli spricht deswegen bei dieser Form der fäkalen Entsorgungszwischenlagerung von einem "deutschen Sonderweg zum Gully", der nur langsam - infolge der Amerikanisierung - verschwinde.
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