Berlin-Kreuzberg: Gentrifizierungsresistent
Sozialhilfeempfänger als Standortvorteil - Kreuzberg ist eine von Land, Bund und Europa alimentierte Wohlfahrtsinsel und paradoxes Ergebnis neoliberaler Arbeitsmarktpolitik. Eine Polemik.
Im Jahr 18 nach der Wende ist ganz Berlin vom Geld besessen. Ganz Berlin? Nein, ein kleiner Stamm unbeugsamer Sozialhilfeempfänger und Harz-IV-Kostgänger beugt sich nicht der zartesten Versuchung seit Mamas Milchgetränk: dem Mammon. Schnöde wird er auch genannt und schnöde haben sich ehemalige Alternativbezirke verkauft. Mitte um Oranienburger und Auguststraße, der Prenzlauer Berg zwischen Schönhauser und Kastanienallee: nur noch Simulationen einer anderen, nichtdeutschen Lebenskultur für jugendliche Kulturtouristen. Friedrichshain hat es am härtesten getroffen, da begräbt die O2-World der Anschutz Entertainment Group ein ganzes Subkultur-Party-Viertel und übrig bleibt die Simon-Dach-Straße, die immer schon wie eine Außenstelle des Bochumer Bermuda-Dreiecks wirkte. Doch ein Bezirksteil leistet Widerstand - Kundige ahnen es schon: Kreuzberg zwischen Spree und Landwehrkanal, auch SO 36 genannt.
Warum und wodurch erweist sich dieser Bezirksteil eigentlich seit diversen Jahrzehnten allen Gentrifizierungsbemühungen gegenüber resistent? Der 1. Mai kann es nicht gewesen sein, zumal aus dem vormaligen Revoluzzer-Karneval ein innerstädtisches Kurz-Woodstock geworden ist. Ethnische Systemgastronomie wie die indische Restaurant-Kette Amrit, die Falafel-Imbiss-Kette Habibi oder "der Italiener" namens Ossena haben auch an der Oranienstraße Einzug gehalten. Selbst die anrainenden und im Kiez vorfindlichen Wagenburgen haben Vorzeigecharakter entwickelt. Alles könnte schön sein. Dennoch verlassen mehr Menschen Kreuzberg, als zuziehen, obgleich die Kneipenlandschaft blüht, neue Klubs zwischen Kottbusser und Schlesischem Tor eröffnet werden und alte neuen Glanz entfalten.
Doch genau am "Kotti" beginnt für den Nicht-Kreuzberger das Grauen in Gestalt der am Bahnhof Zoo ausgemusterten Drogenklientel, am Oranienplatz trifft sich die scene unbehauster Alkoholiker, gleich nebenan in der Naunynstraße dealt die eher weniger leistungsorientierte Jugend mit Migrationshintergrund, im Görlitzer Park werfen deren grillende Väter gnädig dichte Lammfleischnebelschwaden, um das Elend der naturbelassenen Hundemeuten zu verdecken, die von Herrchen und Frauchen - fast allesamt vom Typus autoritätshörige Autonome mit Alleinvertretungsanspruch in Sachen Moral - allenfalls dezent moderiert werden, wenn sie sich ineinander oder in Passanten verbeißen. Die sportlicheren, mithin bildungsferneren Kampfhundbesitzer trainieren ihre besten Freunde hingegen auf dem Mariannenplatz. Südöstlich davon im Wrangelkiez nehmen die Obdachlosen zuhauf ein warmes Süppchen zu sich, das sich bisweilen auf dem Trottoir wiederfindet. Zwischen den zunehmenden Shootings anlässlich der Verfilmung des pittoresken Gemenges hört man immer wieder von echter Gewalt im multiethnischen Milieu - über die alltägliche der Jugendlichen untereinander und die der Männer an Frauen und Kindern sei hier kein unnützes Wort verloren. Kurzum, ein soziokultureller Problemkiez, der mit der größten Bevölkerungsdichte Berlins zumal.
Wer hip ist, meidet daher SO 36 als Wohnort, gar wenn innerhalb der nächsten fünf Jahre der Schulbesuch etwelchen Nachwuchses ins Haus steht: Dann soll mein Kind es besser und ich es bequemer haben. Abends ausgehen kann man da ja immer noch.
Zum Glück für den Bezirk gibt es die anderen, die nicht ausgehen und nur dort leben. Sie garantieren den Standortvorteil: kein übertriebener Zuzug von kaufkräftigen BWLern mit origineller Geschäftsidee, keine Center und Passagen, höchstens Discounter, günstige Mieten für Wohnen und Gewerbe, von daher Platz für Künstler und solche, die es nie sein werden. Das Ausgehen bleibt bezahlbar, und die diversen ethnisch-kulturellen Milieus bestehen apart nebeneinanderher. Viele finden zwar kein Einkommen vor Ort, aber ein Auskommen aus Mitteln des lokalen sozialen Kapitals, des Europäischen Sozialfonds, der Agentur für Arbeit, des Job-Centers. Kurzum Gelder von Land, Bund und Europa alimentieren SO 36 in seiner derzeitigen Form als eine Art verbliebener Wohlfahrtsinsel, in der Modellprojekte stattfinden können, das Quartiersmanagement (eine Art offizielle Kiezclique in den diversen Notstandsgebieten Berlins, die im Auftrag des Senats Gelder im Bekanntenkreis hin und her verteilt, teilweise sogar sinnvoll) den Leerstand von Gewerbeflächen mit Galerien und Ateliers bekämpft, die Zahl der Kitas hoch, die der Spielplätze riesig ist, eine Musikschule sich ebenso findet wie Montessoripädagogik und Waldorf-Kitas, Kinderbauernhöfe und ein Kinderzirkus, Jugend- und Mädchenzentren, Sozialer Wohnungsbau auf hohem (IBA-Wohnhof in der Stresemannstraße) und tiefstem (Neues Kreuzberger Zentrum) Niveau. Die Schulen und Schüler werden ebenso wie Arbeitslose und Gewerbetreibende von verschiedensten Seiten mit verschiedensten Maßnahmen unterstützt.
Manchmal könnte der Verdacht aufkommen, SO 36 sei ein einziges sozialpädagogisches Experimentierfeld, geschaffen, um zu testen, ob man die Schäden, die den Menschen im Kapitalismus letzter, global-medialer Provenienz zugefügt werden, irgendwie kompensieren kann. Um es vorwegzunehmen: kann man nicht - man kann aber damit leben. SO 36 macht es vor, erzeugt eine eigene Mischung, produziert ein Miteinander von Berliner Schnauze und mediterraner Lauthalsigkeit in einem sozialen Milieu, das schon prekär war, als vom Prekariat noch nicht die Spur eines Gedankens zu finden war.
Diese Art der Kreuzberger Kultur des Ertragens und Dagegenseins, dabei unterwegs zu genießen, was genossen werden kann, zeichnet den Bezirk gegenüber anderen aus, die sich in ihrer kulturellen Diaspora aufgegeben haben, ansonsten aber gleichermaßen von Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfängern bevölkert sind, wie Neukölln oder Wedding. Zu Kreuzbergs Gunsten trägt sicherlich auch die innerstädtische Randlage und die urbane Struktur überhaupt bei - von drei Seiten von Wasser umgeben, lediglich von zwei Hauptverkehrsadern (Skalitzer und Schlesische Straße) durchzogen, mit breiten begrünten Straßen, Plätzen, zwei Bädern und einem großen Park. Diese Idylle, öffentlich gefördert und ästhetisch weitgehend von eklen Schickeria-Eltern freigehalten, verdankt letztlich ihr Dasein der sozialen Schieflage. Stimmen werden laut: "Werden da nicht Sozialhilfeempfänger zynisch instrumentalisiert?" "Du, denen geht es aber wirklich nicht so gut!" Allerdings werden Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose von jeher instrumentalisiert, sind sie eine bewusst produzierte Folge der politisch gewünschten Arbeitsmarktpolitik und Verteilung des Bruttoinlandsprodukts.
Es geht ihnen wirklich nicht gut, und sie erinnern daran, mahnen durch bloße Anwesenheit an die Effekte herrschender Politik. In SO 36 fällt es auf Dauer schwer zu glauben, dass die bestehende Gesellschaftsordnung die beste aller möglichen sei. Anders als in, sagen wir, Friedrichshagen oder Lichterfelde-West oder Kleinmachnow kann man jeden Tag sehen, dass es etwas gibt, was früher einmal Klassengegensatz hieß. Damals zeichnete sich die eine Klasse namens Proletariat dadurch aus, dass sie nichts anderes zu verkaufen hatte als ihre Arbeitskraft, heutzutage zeichnet sich eine im tieferen Sinne namenlose Klasse dadurch aus, dass niemand ihre Arbeitskraft will.
Politisch-ökonomisch stellt sich die Frage, wozu werden die eigentlich alimentiert, und das so geringfügig, dass sie nicht einmal als Konsumenten ins Gewicht fallen? Weil sie die Funktion des Sündenbocks haben, wäre eine mögliche Annahme. Jeden Monat wird irgendwo, in Zeitung oder Netzzeitung oder von einem Politiker, der Missbrauch des Sozialsystems beklagt, wird irgendein armes Schwein an den Pranger gestellt, weil es nicht mit dem zufrieden war, was ihm zugeteilt wurde - wenn es denn einen Anlass braucht. Letztlich geht es um die Logik des sozialen Ressentiments in diesen Bezichtigungen.
In Kreuzberg aber kann man eine Ahnung davon gewinnen, dass es so wohl nicht ist, dass Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe eher nicht so lustig sind. Noch gibt es diesen Widerstand, der Kreuzberg als solches bewahrt, selbst wenn die Zeichen der Übernahme durch Eurogläubige und -besitzende sich mehren: Die Mietpreisbindung für Sozialwohnungen wurde befristet ausgesetzt, McDonalds hat die erste Filiale eröffnet und die Schlesische Straße ist auf dem übelsten Weg, zur Partymeile zu werden. Der Widerstand geht ausnahmsweise tatsächlich vom Volk aus, selbst wenn es sich gar nicht dafür interessiert, sondern nur dableibt, wenn die Party-People nach Hause müssen. Danke!
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