Berlin Buch Boom : Von Preußen und Osmanen: Der Sammelband „Türken in Berlin 1871–1945“ versammelt die Erinnerungen türkischer Zeitzeugen
Als die Zigaretten noch Enver Pascha hießen
„Auf der Straße gehen die Deutschen meist allein“, und „tatsächlich ist nirgends lautes Gelächter zu hören“, notiert der türkische Schriftsteller Cenab Shabeddin, als er 1918 durch die preußische Hauptstadt spaziert. Ansonsten aber sind sie durchaus gesellig: „In Berlin gibt es kaum einen Deutschen, der nicht in Gesellschaften oder Vereinen organisiert wäre“, stellt er fest: „Der merkwürdigste aber ist sicher der ‚Verein der Vereinsgegner‘.“
Man sucht sie, diese erwartbaren Stereotypen, natürlich auch in einem Buch wie „Türken in Berlin. 1871–1945“, das Reiseberichte, Betrachtungen und Briefe türkischer Berlin-Besucher aus einem guten Dreivierteljahrhundert versammelt. Aber man findet sie selten. Denn im Einzelfall ist ja doch immer alles ganz anders.
Dafür schlägt dem Leser viel Zeitkolorit entgegen, das die wechselvolle Geschichte zwischen Deutschland und der Türkei reflektiert, bevor mit der Zeit der Arbeitsmigration der Sechzigerjahre eine neue Ära anbrach.
Die Verbindung datiert schon etwas weiter zurück, als Friedrich II. Mitte des 18. Jahrhunderts die diplomatischen Beziehungen mit dem Osmanenstaat aufnahm. Aus dieser Zeit der frühen Gesandten stammt auch der erste islamische Friedhof auf deutschem Boden: Berlins türkischer Friedhof, der später an den Columbiadamm verlegt wurde. Dort wurde gerade eine Moschee fertig gestellt, über deren Minaretthöhe nun gestritten wird.
Vor rund hundert Jahren hätte man sich womöglich noch gefreut. Damals wurde offiziell die Waffenbruderschaft mit dem Osmanischen Reich beschworen, und im deutschen Bürgertum herrschte regelrechte Orient-Begeisterung vor. Deutlich wird das an der Person des Enver Pascha, der als Militärattaché in Berlin weilte und die Popularität eines Popstars genoß. Seinen Namen lieh er einer Zigarettenmarke, die damit Reklame machte. Und in Klein-Glienicke, wo der Pascha gewohnt hatte, wurde 1915 eine Brücke nach ihm benannt.
Wie Enver Pascha entstammte die Mehrheit der türkischen Berlin-Besucher, deren Korrespondenz von 1871 bis 1945 nun am Hamburger Institut für Turkologie in leicht lesbare Kapitel zusammengefasst wurde, der osmanischen Oberschicht: Diplomaten und Militärs, aber auch viele Ärzte und Sozialreformer zog es nach Deutschland, das für sie in vielerlei Hinsicht ein Vorbild war. Oft ist deshalb die Rede von Besuchen in Opernhäusern und Varietés. Und allerhand türkische Prominenz kommt auf den über dreihundert Seiten zu Wort: etwa Mustafa Kemal, besser bekannt als Republikgründer Atatürk, oder der Publizist Nadir Nadi, Begründer der traditionsreichen Tageszeitung Cumhuriyet, sowie der Soziologe Niyazi Berkes: Namen, die man in der Türkei noch heute kennt. Aus deutscher Sicht ragt dagegen eine Begegnung mit Robert Koch an der Charité heraus, die ein junger türkischer Arzt schildert, oder die eines jungen türkischen Schauspielers mit Max Reinhardt; aber auch Audienzen bei Wilhelm II. (Atatürk) und Goebbels (Nadir Nadi). Die offiziöse Form der Begegnung lässt diese Beschreibungen aber meist konventionell geraten.
Viel interessanter liest sich dagegen die Lebensgeschichte einer ungewöhnlichen Frau wie Rabia Tevfik Basokcu, die in den Zwanzigerjahren auf eigene Faust nach Berlin kam. Zunächst arbeitete sie als Schneiderin für Kunden aus dem russischen Adel, später eröffnete sie ihr eigenes Modehaus. Rabia Tevsik Basokcu verstand sich ganz als emanzipierte Frau der neuen Türkei. Doch in Berlin hatte sie zunächst Schwierigkeiten mit männlichen Landsleuten, denen sie zu unabhängig erschien. Und Probleme mit der Missgunst deutscher Vermieter und Behörden, die es nicht vertragen konnten, dass es ihr als Ausländerin finanziell besser ging als ihnen. Das liest sich dann gar nicht so weit entfernt von den Erfahrungen späterer Einwanderinnen. DANIEL BAX
Ingeborg Böer u. a. (Hg.): „Türken in Berlin 1871–1945“. De Gruyter Verlag, 374 S., 24,95 €