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Benjamin Moldenhauer Popmusik und EigensinnEine Utopie von Angst befreiter Spontaneität

Foto: privat

Das Schönste, das sich im an Schönheit nicht armen Werk Helge Schneiders findet, ist der Film „Jazzclub – Der frühe Vogel fängt den Wurm“. Schneider spielt hier einen glücklosen Jazzer, der mit seinen Mitstreitern (dem wundervollen Schlagzeuger Pete York unter anderem) tagsüber in der wirklich niederschmetternden Fußgängerzone Mülheims herumsitzt, frühmorgens im strömenden Regen Zeitungen austrägt und nachts im titelgebenden Jazzklub auftritt. Dieser Klub ist menschenleer – derritorialisiertes Gebiet. Die Aufnahme des Eingangs mit dem Klubschild im Regen eine meiner Lieblingseinstellungen des deutschen Nachkriegskinos. Und die Fußgängerzone, überhaupt das Bild der westdeutschen Stadt, das dieser Film (Kamera: Voxi Bärenklau) entwirft, ist hochkonzentrierter, stählerner BRD Noir.

Die Deutschen lachen seltener als andere Völker, sagt der Kulturwissenschaftler Rainer Stollmann. Es gab ja auch immer genug zu tun. Heinz Erhardt war das verschmitzte Lächeln nach Auschwitz, der Ausweis neuer Harmlosigkeit. Otto Waalkes wurde möglich durch die antiautoritäre Revolte, die er als gleichfalls harmlosen Kinderspaß auf der Bühne reinszenierte. Loriot war der freundliche ältere Herr, der von oben und voller Menschenliebe auf das angestrengte Treiben des Kleinbürgertums schaut. Mario Barth zelebriert heute die totale Negation von Geist und Schönheit in atemberaubender Intensität.

Helge Schneider schließlich verkörpert in dieser Reihe das Utopische, das hier erscheint als reine, von Angst befreite Spontaneität und als Möglichkeit zu unmittelbarem Ausdruck, der nicht mehr fürchten muss, für das, was er zum Vorschein bringt, sozial sanktioniert zu werden. Dass in den Neunzigern, der „Katzeklo“-Zeit, auch ballermannverwandte Kreise Schneider-Lieder sangen, macht Hoffnung. Vielleicht verfingen ja die Signale Helge Schneiders auch dort, um in den Köpfen und Herzen zu gären und sich irgendwann zu voller Blüte zu entfalten. Die Leichtigkeit, ja überhaupt alles, für das es sich lohnt, den Sprung aus dem Mülheimer Hochhausfenster bleiben zu lassen, kommt in „Jazzclub“ aus der Musik – und vom Witz. Space is the place: Am Ende von „Jazzclub“ wird Helge Schneider von Außerirdischen abgeholt und rauscht mit seinen Mitmusikern ins All, das Land hinter sich lassend.

Helge Schneider: „Ordnung muss sein“, Fr, 8. 2., und Sa, 9. 2., 20 Uhr, Konzerthaus Die Glocke, Großer Saal

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