Barbara Vinken über Debatte zu Spätabtreibungen: "Leidige Rückzugsgefechte"
Die von der CSU angestoßene Debatte um Spätabtreibungen sei purer Wahlkampf, sagt die Münchener Professorin Barbara Vinken. Nicht die überforderten Frauen sind das Problem, sondern die Schulmedizin.
taz: Frau Vinken, die CSU fordert eine ärztliche Beratung, wenn eine Behinderung beim Fötus festgestellt wird, damit die Zahl der derzeit jährlich rund 200 Abtreibungen nach der 23. Schwangerschaftswoche minimiert werden kann. Was halten Sie von dieser Forderung?
Barbara Vinkeng, geb. 1960, ist Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Derzeit untersucht sie, woher das Dogma von der Unvereinbarkeit von Karriere und Beruf bei Frauen herrührt und warum es sich insbesondere in Deutschland so hartnäckig hält. Zuletzt veröffentlichte sie: "Die deutsche Mutter - Der lange Schatten eines Mythos", Piper 2001.
Barbara Vinken: Ich halte es für eine typische Maßnahme zum Wahlkampf, genauso wie das Hochspielen der Pendlerpauschale. Beide Forderungen reiten auf derselben populistischen Welle.
Die Frage der Zwangsberatung war schon bei der früheren Indikationsregelung höchst umstritten.
Richtig. Alle Beratungen, die Pflicht sind, sind keine wirklichen Beratungen. Daher zielt die Forderung der CSU auf eine Überregulierung und auch auf eine Bevormundung von Frauen. Der autoritäre medizinische Apparat geht einfach davon aus, dass Frauen sich nicht selbst entscheiden können.
Nun will die CSU aber vor allem den Arzt mehr in die Pflicht nehmen. Er soll sich zukünftig strafbar machen, wenn er nach der Diagnose einer Behinderung nicht ausreichend berät oder die geforderten drei Tage Bedenkzeit für die Frauen nicht einhält und den Abbruch vorher durchführt.
Prima. Aber um die Frage etwas grundsätzlicher anzugehen: Die Medizin ist nicht nur ein Segen, sondern in diesem Fall auch ein Fluch. Frauen werden von dem medizinischen Apparat wie Vieh in diese Frühuntersuchungen hineingedrängt. Ist man älter als 35 Jahre, werden einem diese Untersuchungen so massiv nahe gelegt, dass man sich diesem Druck kaum entziehen kann.
Sie haben Erfahrung?
Ja, ich gehörte auch zu den sogenannten Spätgebärenden.
Also keine Frühuntersuchungen?
Man sollte eine Beratung anbieten, bevor man diese Untersuchungen vornimmt. Damit man sich klar wird, was es bedeutet, von einer Behinderung beim eigenen Kind zu erfahren.
Für viele Frauen ist es aber eine Erleichterung, ein behindertes Kind nicht bekommen zu müssen. Warum also "Fluch der Medizin"?
Weil wir uns mit dieser Diagnosemöglichkeit in eine objektiv tragische Entscheidungssituation zwingen. Jedoch: Wenn ich sowieso weiß, dass ich keine Abtreibungen vornehmen lassen will, dann brauche ich mich dieser Untersuchung nicht zu unterziehen. Ich nehme dann die Gnade des Nichtwissens für mich in Anspruch. Die Entscheidung zur Untersuchung ist de facto eine Entscheidung gegen ein behindertes Kind. Es ist doch viel besser, diese Entscheidung vorher zu treffen.
Wenn es aber die Aufgabe des Gesetzgebers ist, auch das ungeborene Leben zu schützen, und dieses nun nicht mehr auf Kosten der Schwangeren, sondern durch die Inpflichtnahme der Ärzte getan werden soll - kann man dann mehr Verständnis für die Forderung der CSU aufbringen?
Nein (lacht). Denn der Kern der Problematik besteht doch darin, ob man zukünftigen Eltern nahe legen sollte, zu diesem Zeitpunkt zwischen lebenswertem und -unwertem Leben zu unterscheiden. Das ist eine absolut zentrale ethische Frage. In dem Moment aber, in dem diese Untersuchungen serienmäßig stattfinden, hat der medizinische Apparat das bereits entschieden. Er hat gesagt: Das Leben von behinderten Kindern ist eigentlich nicht lebenswert.
Frauen können doch darüber entscheiden, ob sie diese Diagnostik in Anspruch nehmen.
Nicht wirklich. Diese Untersuchungen werden einem in einer Massivität nahe gelegt, die ich sehr eigenartig finde. Nach dem Motto: Wenn Ihr Kind mongoloid ist, wollen Sie es doch eh nicht zur Welt bringen, oder?!
Teile der SPD befürchten, dass nun das ganze "Paket § 218" erneut aufgeschnürt wird. Sehen Sie da auch eine Gefahr?
Eigentlich nicht. Deswegen ist es für den Wahlkampf geschickt, die Diskussion auf das Thema Spätabtreibungen zu lenken. Mittlerweile ist die Fristenlösung in der Bevölkerung weitgehend akzeptiert. Insofern dürften sich über ein Wiederaufrollen des § 218 nicht viele Wähler mobilisieren lassen. Hingegen ist etwa der Umstand, dass Kinder abgetrieben werden, die unter Umständen lebendig zu Welt gekommen wären, emotional hoch besetzt. Schon deshalb, weil er nur sehr wenige betrifft.
Spätabtreibung wäre also der einzige Zuschnitt, mit dem sich die ohnehin nostalgisch anmutende Abtreibungsdebatte noch instrumentalisieren lässt?
Genau.
Die ehemaligen Kernthemen wie Abtreibung und Gewalt gegen Frauen tauchen in der aktuellen Debatte um den neuen Feminismus kaum mehr auf. Zu Recht?
Über die Diskussion um die Menschenrechte wird die Gewaltfrage gegen Frauen doch ziemlich massiv gestellt. Ansonsten geht es heute tatsächlich um Selbstbestimmung mit Kind und nicht mehr, wie noch in den Siebzigerjahren, gegen das Kind. Die Debatte um künstliche Befruchtung hat die um Abtreibungen weitgehend verdrängt. Die Angst, keine Kinder zu bekommen, scheint stärker als die Angst, ungewollt schwanger zu werden.
Wie kommts?
Angesichts dessen, dass es ungleich mehr Abtreibungen als künstliche Befruchtungen gibt, handelt es sich zunächst mal um eine Verdrängung von Realität. Das Zentrale aber ist, dass heute der Automatismus "Kinder krieg ich sowieso irgendwie" ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist die Empfängnis ein per definitionem dem Bewusstsein und der freien Entscheidung entzogener Vorgang; er stößt einem zu. Sich als selbstbestimmtes Subjekt für ein Kind entscheiden zu müssen, ist daher paradox. Vor 20 Jahren haben Frauen für Selbstbestimmung gekämpft, um sich gegen ein Kind entscheiden zu können. Heute habe ich den Eindruck, dass es eher darum geht, sich für ein Kind entscheiden zu dürfen.
Was bedeutet diese neue Entscheidungsnotwendigkeit für die gegenwärtige Idee von Mutterschaft?
Es ist schwieriger, Mutter zu sein. Man hat es ja selbst so gewollt und steht unter einem enormen ethischen Druck, sich als eine gute Mutter zu beweisen.
Ist das gut oder schlecht für die Kinder?
Schlechter natürlich. Je weniger Druck, desto besser. Je mehr so en passant passiert, umso besser.
Was sind heute für Sie die vordringlichen feministischen Themen?
Ich finde diese Bevormundung durch den medizinischen Apparat wirklich ätzend. Doch das Hauptthema, aber das sage ich ja schon seit 150 Jahren: Es muss normal sein, dass eine Frau Kinder hat und eine volle Karriere macht. Und der Rattenschwanz der Altersarmut von Frauen und der Kinderarmut, der daran hängt.
Wie ist hier Ihre Prognose?
Wir haben seit dem Zweiten Weltkrieg erstmals eine Wende in der Familienpolitik. Aber es muss jetzt wirklich ein bisschen schneller vorangehen. Und diese Diskussionen um Spätabtreibung und die Pendlerpauschale, das sind so emotionale Machogeschichten; der Mann fährt zur Arbeit, die Frau sitzt mit den Kindern im Grünen. Aber obwohl mich das nervös macht, denke ich schon, dass es sich hierbei um Rückzugsgefechte handelt.
INTERVIEW: INES KAPPERT
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