Babymilch-Skandal weitet sich aus: "Wem soll man noch trauen?"
Das Ausmaß des Babymilch-Skandals wird klarer. Zehntausende chinesischer Säuglinge sind in den vergangenen Jahren mit gepantschter Nahrung gefüttert worden.
Im Jingkelong-Supermarkt nahe des Pekinger Arbeiterstadions steht Herr Qiu verloren vor den Regalen. Für seinen vierwöchigen Sohn will er Babymilchpulver kaufen. Nun hat er Angst, etwas falsch zu machen, und er ist wütend zugleich: "Wie kann ich sicher sein, dass ich die richtige Marke nehme?"
Gerade hat er der Verkäuferin eine Tüte Yili-Milchpulver auf den Tresen geknallt und das Geld zurückverlangt. Die Staatsfirma Yili gehört zu den renommierten Molkereien Chinas, als Olympia-Sponsor hat sie überall Werbung gemacht. Aber nun hat Qiu erfahren, dass er betrogen wurde: Zu den 22 Firmen, die nach offiziellen Angaben Babymilch mit der Chemikalie Melamin versetzt haben, gehört auch Yili.
In diesen Tagen wird das Ausmaß des jüngsten Babymilch-Skandals klar. Zehntausende chinesischer Säuglinge sind in den vergangenen Jahren mit gepantschter Nahrung gefüttert worden - und die Behörden haben weggeschaut. Mindestens vier Menschenleben hat die böse Mischung von Profitgier, Korruption und Gleichgültigkeit inzwischen gefordert. Über 150 Säuglinge liegen mit akutem Nierenversagen in den Krankenhäusern, mehr als 6.200 sind erkrankt.
Vor den Krankenhäusern in Peking drängten sich gestern seit den frühen Morgenstunden besorgte Eltern, um ihren Säugling für eine Ultraschall-Untersuchung anzumelden. Sie wollen feststellen lassen, ob auch ihr Kind Nierensteine hat.
Aufgeflogen war zunächst der staatliche Molkereikonzern Sanlu, der seinen Hauptsitz in Pekings Nachbarprovinz Hebei hat. Sein neuseeländischer Partner Fonterra hatte vor wenigen Tagen die Pekinger Zentralregierung über die gesundheitschädliche Babymilch alarmiert.
Inzwischen geben Provinzfunktionäre zu, dass Milch mancherorts bereits seit 2005 mit Wasser und dem geschmacks- und geruchlosen Melamin gestreckt worden war. Das chemische Mittel dient dazu, Eiweißwerte vorzutäuschen, die gar nicht in der Milch vorhanden sind, wenn sie mit Wasser gestreckt ist. So ließ sich die rasch steigende Nachfrage nach Milch in China leichter befriedigen: Im Reich der Mitte werden jedes Jahr rund 17 Millionen Babys geboren, ein großer Teil wird mit Milchprodukten ernährt.
Dass gleich 22 Firmen in ganz China ihre Kunden betrogen, deutet darauf hin, dass die Melamin-Methode in der Branche kein Geheimnis war. Umso krasser erscheint das Versagen der staatlichen Nahrungsmittelkontrolleure, die, wie ihr Chef Li Changjiang am Mittwoch eingestand, "nicht danach gesucht hatten."
Im Klartext: Die Regierung, die Geburtenkontrolleure bis ins letzte Dorf schickt und Familien zwingt, nur ein einziges Kind zu haben, war nicht in der Lage, ein vernünftiges Kontrollsystem zu errichten, um die Gesundheit und das Leben der Kinder zu schützen. Nach einer Krisensitzung mit Premierminister Wen Jiabao erfuhren die Chinesen gestern, bei der Milchwirtschaft herrschten "chaotische Zustände".
Das bedeutet: Unabhängige Überwachung gibt es so gut wie nicht, die meisten Labors gehören den Industrieverbänden. Gefälligkeitsgutachten sind da keine Seltenheit, sagen Fachleute. Dem neuen chinesischen Kapitalismus fehlen Kontrollinstanzen, die Verbraucher besser schützen könnten.
Dabei hatte es in den vergangenen Jahren genug Probleme mit verseuchtem Fleisch, Fisch, Krabben und anderen Nahrungsmitteln gegeben. 2004 starben 13 Säuglinge in der Provinz Anhui, nachdem sie mit gefälschter Babymilch gefüttert worden waren.
Trotzdem konnte die Firma Sanlu, die als größter Melamin-Sünder gilt, bis jetzt im Fernsehen ganz legal damit werben, dass die staatlichen Kontrolleure ihre Produkte gar nicht erst testeten, weil sie sich auf die "gute Qualität der Firma" verließen.
Erst seitdem der Skandal international bekannt wurde, verbieten die Behörden solche Persilscheine. Melamin wurde mittlerweile auch in Eis, Yoghurt und anderen Produkten nachgewiesen.
Im Internet hagelt es nun Kritik an den Behörden. Es herrscht Entsetzen über die Profitgier chinesischer Firmen, die sogar das Leben von Kindern riskieren. Chinesen, die ihre Babys nicht gefährden wollten, müssten sich am Ende für importierte Milch entscheiden. "Seid patriotisch! Kauft ausländische Produkte!" schrieb ein Kommentator ironisch. "Wem soll man eigentlich noch trauen, wenn die Regierung uns nicht schützt?", fragte ein anderer.
Peking versucht nun, den Schaden einzudämmen. Mehrere Funktionäre der Provinz Hebei und auch die Sanlu-Chefin verloren ihren Posten, in der Stadt Shijiazhuang wurden 18 Händler von vergiftetem Milchpulver und Melamin festgenommen.
Gleichzeitig erhielten die Zeitungen wie in solchen Fällen üblich einen Maulkorb: Sie sollen nur noch Berichte der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua abdrucken oder von offiziellen Pressekonferenzen berichten. Die KP erhofft sich so, den Zorn der Eltern unter Kontrolle zu bekommen./
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