„BÜRGERVERSICHERUNG“: JEDER DARF SICH WAS VORSTELLEN : Eindeutigkeit verengt die Zielgruppe
„Begriffe besetzen“ ist ein beliebtes Politikspiel. Wer das schönste Schlagwort hat, der hat die Wähler, hat die Macht, lautet das Motto der Chefstrategen. Die Grünen beherrschen das Spiel deutlich besser als die SPD. Gerade hat Joschka Fischer erkannt, wie freundlich „Bürgerversicherung“ klingt. Da kann sich jeder Bürger sicher fühlen. Gleichzeitig, auch schön, mutet der Begriff modern an. Wieder konnten die Grünen prunken, dass sie der „Reformmotor“ der Koalition seien – und damit erneut diesen hübschen Begriff für sich okkupieren.
Wie hilflos wirkt dagegen der SPD-Slogan „Mut zur Veränderung“, der über Schröders Agenda 2010 prangt. Man hätte dem Kanzler davon abraten sollen: eine Forderung ohne Versprechen – das ist nichts für die panischen Deutschen, die sich nach Nestwärme sehnen. Diesen Fehlgriff scheint die SPD nun zu erkennen; im Leitantrag für den Parteitag fordert neuerdings auch sie eine „Bürgerversicherung“. Damit waren die Sozialdemokraten gerade noch schnell genug; bei diesem Wort wird es langsam eng, wenn man noch parteipolitischen Mehrwert erzeugen will. Exgesundheitsminister Horst Seehofer arbeitet auch schon feste daran, seine Union von der Werbewirksamkeit des Konzeptes zu überzeugen.
Wie sich die Sozialdemokraten ihre Bürgerversicherung vorstellen, bleibt nebulös. Aber das gehört sich so beim Spiel mit den Begriffen; Eindeutigkeit verengt die Zielgruppe. Einer der vagen Vorschläge, die im Parteivorstand zirkulieren, ist jedoch beachtlich: Jeder Bürger soll frei wählen können, ob er einer privaten oder gesetzlichen Krankenkasse angehört. Leistungskürzungen? Mehrbelastungen? Aber nein. Und der Beitragssatz soll auf unter 13 Prozent sinken, dafür werden eventuell Zinsen und Mieteinkünfte berücksichtigt.
Es klingt wie eine Wunderwelt der Solidarität, so als dürfte künftig auch der gemeine Bürger den Chefarzt beanspruchen oder im Einzelzimmer liegen, und das sogar zu einem Preis, der die gesetzlichen Beiträge kaum übersteigt. So hat man sich die Bürgerversicherung immer erträumt. Deswegen hat dieser Begriff noch eine großartige Karriere vor sich. ULRIKE HERRMANN