BRUTALE POLIZISTEN IN ISTANBUL STELLEN REFORMBESTREBUNGEN IN FRAGE : Erst demokratisieren, dann beitreten
Was schockiert eigentlich mehr? Die Fernsehbilder vom Sonntagabend aus Istanbul, ein Polizeistiefel im Gesicht einer am Boden liegenden Frau? Oder die Reaktion türkischer Frauenrechtlerinnen auf den Vorgang? Die verstehen nämlich die ganze westliche Aufregung nicht. Eine kleine Umfrage bei Menschenrechtsorganisationen in Ankara und Istanbul führt zu der ernüchternden Erkenntnis: Derart brutale Polizeieinsätze gehören zum Alltag. Die Gesetze zu ändern, ist eine Sache. Die Einstellung und das Verhalten der Einsatzkräfte demokratischen Standards anzupassen, scheint ein viel langwierigerer Prozess zu sein.
Wie aber soll die Europäische Union mit dieser Tatsache umgehen? Soll sie auf die Reformdynamik bauen, die in Beitrittsgesprächen entsteht? Oder soll sie sich auf den Standpunkt stellen, für die Türkei müssten die gleichen Regeln gelten wie für alle anderen Beitrittskandidaten: Erst müssen Mindeststandards gegeben sein – nicht nur im Wirtschaftssystem, sondern auch im Polizeiapparat. Dann erst können Beitrittsverhandlungen beginnen. Türkische Frauenrechtlerinnen haben dazu eine klare Meinung. Sie setzen alle Hoffnung auf die Beitrittsverhandlungen.
Während dieser Gespräche stehen die staatlichen Strukturen permanent auf dem Prüfstand. Vorgänge wie der brutale Polizeieinsatz in Istanbul werden im Westen diskutiert und zwingen die türkische Regierung zu einer Stellungnahme, die andernfalls wohl ausbliebe. Die EU-Kommission argumentiert ähnlich. Würden die Verhandlungen jetzt auf die lange Bank geschoben, werde der Reformprozess gestoppt.
Wer so argumentiert, missbraucht die Beitrittsverhandlungen als Demokratisierungsinstrument. Dann müssten auch andere zarte Pflänzchen wie die Ukraine umgehend mit Beitrittsverhandlungen gedüngt werden. Das will niemand in Brüssel. Wie andere Kandidaten muss sich die Türkei vor Verhandlungsbeginn entscheiden, ob sie europäische Positionen zur Rechtsstaatlichkeit, zur Zypern- oder Armenienfrage übernehmen will. Dann erst wird sich zeigen, ob immer noch zwei Drittel aller türkischen Bürger lieber heute als morgen der EU beitreten würden. DANIELA WEINGÄRTNER