BOLIVIEN: EVO MORALES HAT DIE MEHRHEIT FÜR EINE NEUE VERFASSUNG : Eine Reform, kein Systemwechsel
Evo Morales kann zufrieden sein: Sechs Monate nach seinem klaren Wahlsieg steht immer noch eine absolute Mehrheit der Bolivianer hinter ihm. Offensichtlich unterstützen sie den Reformkurs, durch den er die Kontrolle über die natürlichen Reichtümer erlangen und für die soziale Entwicklung des Landes nutzen will. Die nun gewählte verfassunggebende Versammlung könnte ihn dabei unterstützen – wenn es gelingt, die neue politische Dynamik auf eine breitere Basis zu stellen.
Ein Systemwechsel, wie ihn Hugo Chávez in Venezuela vollzieht, steht in Bolivien noch nicht auf der Tagesordnung. Zwar sind die Traditionsparteien ebenso diskreditiert wie in Venezuela, doch in den wohlhabenden Provinzen Ostboliviens sitzt die Oligarchie fest im Sattel. Bereits im März, als die Modalitäten für die jetzigen Abstimmungen festgelegt wurden, räumte die Regierung der Opposition weitgehende Garantien ein. Damit war für Morales’ „Bewegung zum Sozialismus“ eine Zweidrittelmehrheit der Sitze fast ausgeschlossen, der Weg zu Kompromissen vorgezeichnet.
Aller plakativen Rhetorik zum Trotz ist Morales ein Realpolitiker, der den Druck der sozialen Bewegungen bislang geschickt für sein reformistisches Projekt zu nutzen wusste. Schon in den Jahren vor seinem Wahlsieg bremste er allzu radikale Forderungen aus, etwa jene nach Enteignung der Erdölmultis, und plädierte stattdessen für „verantwortungsvolle Nationalisierungen“ innerhalb des Systems. Als Staatschef band er führende Aktivisten in sein Kabinett ein.
Die vom Präsidenten immer wieder beschworene „Neugründung Boliviens“ wird aus heutiger Sicht weniger spektakulär ausfallen als von vielen erhofft oder von manchen befürchtet. Das liegt vor allem an den innen- und außenpolitischen Abhängigkeiten – ausgerechnet Brasiliens Staatskonzern Petrobras sträubt sich bislang am heftigsten gegen eine Neuverhandlung der Erdgasverträge. Schon im eigenen Interesse wird Evo Morales der Volksbewegung wieder mehr entgegenkommen müssen. Die verfassunggebende Versammlung wäre dazu eine gute Gelegenheit. GERHARD DILGER