piwik no script img

Archiv-Artikel

BETTINA GAUS über FERNSEHEN Angel of ... Angel of ... Angel of Berlin

Sat.1 hat Musik in Geräusch verwandelt – und zwar in ein Geräusch, das man dringend abstellen will

„Die ist jetzt auf Platz 1 der Charts“, sagte der junge Mann an der Kasse, als ich vor ein paar Wochen die Single „Angel of Berlin“ von Martin Kesici kaufte. Das wunderte mich nicht. Es muss viele Leute wie mich geben, denen es ein körperliches Bedürfnis war, dieses Lied zu besitzen. Nicht weil es so besonders toll ist. Ganz nett, sehr harmlos, und ich habe es nur ein einziges Mal gehört. Aber dieses eine Mal musste sein. Unbedingt. Denn Sat.1 hatte sich zur Vermarktung des Siegers der hauseigenen Sendung „Star Search“ einen Trick einfallen lassen, der mir eine Ahnung davon vermittelte, wie sich Tinnituspatienten fühlen mögen.

Der Trick ist simpel, aber sehr wirkungsvoll: Am Ende der Werbeblöcke von Sat.1 wurde jeweils das Lied eingespielt – und ganz abrupt beendet. Mitten im Refrain. In genau der Sekunde, die nach dem nächsten Ton schrie. Dann lief es im Kopf weiter: „Angel of … Angel of … Angel of …“

So ähnlich hörte es sich früher an, wenn die Langspielplatte einen Sprung hatte. Aber der eigene Kopf hat keinen Tonarm, der sich weitersetzen lässt. So musste halt der Tonträger gekauft werden, und die Schadenfreude darüber, dass RTL das Lied der Konkurrenz als Sieger der Charts verkünden musste, war dafür nur ein schwacher Trost.

Sat.1 hat Musik in Geräusch verwandelt – und zwar in ein Geräusch, das man dringend abstellen wollte. Das ist im Fernsehen eigentlich bei allen Geräuschen so, ganz anders als im wirklichen Leben. Da gibt es richtig schöne Geräusche. Ich höre es am liebsten, wenn ein Stempel auf Papier knallt: Das bedeutet schließlich stets, dass ein langwieriger, langweiliger, blöder Vorgang endlich abgeschlossen ist. Meine Tochter sagt, ihr Lieblingsgeräusch sei das Klingeln ihres Telefons – es kündige eigentlich immer irgendetwas Interessantes an. Das dürfte sich zwar im Lauf ihres Lebens leider noch ändern, aber was (hoffentlich) bleibt, ist die grundsätzliche Möglichkeit, sich an Geräuschen zu erfreuen. Raschelndes Laub, raschelnde Banknoten – jedem und jeder das Seine oder Ihre. Das ruhige, gleichmäßige Piepen der Herztonüberwachung sei das Schönste, was sie je gehört habe, sagte eine Freundin, nachdem ihr Mann eine schwere Krankheit überstanden hatte.

Was klingt hingegen im Fernsehen schon angenehm – oder auch nur realistisch? Wenn auf der Kinoleinwand die Wellen leise an den Strand schlagen, dann verwandelt sich der Polstersessel in einen Liegestuhl. Die Akustik eines Fernsehers gibt das einfach nicht her. Geräusche erzeugen hier niemals Wohlbefinden. Sie dienen allenfalls der Information. Der Information? Von wegen. Stellen Sie sich bitte eine Flusslandschaft in Asien auf dem Bildschirm vor: Was hören Sie jetzt in Ihrem Kopf? Ganz recht. Sanfte Hintergrundmusik, allenfalls. Insgesamt hören – und sehen – Sie ein Bild des Friedens und der Stille. Und bei Großstadtaufnahmen? Schrille, hektische Töne, Geräuschfetzen. Lärm.

So weit das Fernsehen. In der Realität herrscht in vielen städtischen Wohnblocks gespenstische Ruhe, während auf dem asiatischen Fluss die Dieselmotoren der Boote knattern. Dass sich mit Bildern lügen lässt, hat sich herumgesprochen. Das Geruchsfernsehen steht selbst bei Technikfreaks noch nicht im Wohnzimmer. Tasten und schmecken hat mit Fernsehen ohnehin nichts zu tun (von der blicklosen Suche nach den Nüsschen auf dem Beistelltisch einmal abgesehen). Und offensichtlich können wir uns eben nicht auf einmal auf das verlassen, was wir hören. Das Fenster zur Welt setzt die Zuverlässigkeit all unserer Sinne zuverlässig außer Kraft.

Es gibt keinen Anlass, das zu bedauern. Im Gegenteil. Ich habe nicht das geringste Interesse daran, riechen und schmecken zu müssen, was die Gäste von Alfred Biolek kochen, und ich finde eine ruhige asiatische Flusslandschaft in einem angenehm temperierten Raum viel anziehender als die dazugehörige Hitze, den Gestank und den Lärm der Wirklichkeit. Aber ich halte Fernsehen ja auch nicht für ein Informationsmedium.

Fragen zum Fernsehen?kolumne@taz.deMorgen: Kirsten Fuchs über Kleider