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Archiv-Artikel

BERNHARD PÖTTER über KINDER Ist eigentlich alles umsonst?

Chaos in der Küche, voll gepinkelte Kinderbetten und dann auch noch die Waschmaschine kaputt. Eine Sinnkrise

Eine ordentliche existenzielle Krise kann man überall und jederzeit haben: wenn man seine Steuererklärung zurechtbastelt. Wenn der innig geliebte Goldhamster plötzlich und unerwartet aus dem Schoß der Familie gerissen wird. Wenn auf dem Berg Sinai die Sonne aufgeht. Bei meinem Sohn ist es anders. Er sitzt auf seinem Schlitten am Fuße des Rodelbergs und rührt sich nicht.

(Früher hätten Sie an der Erwähnung des Wintersports sehen können, wie alt dieser Text ist. Heute zeigt es nur, wie schnell der Klimawandel voranschreitet.)

„Jonas, kommst du noch mal mit nach oben für eine letzte Fahrt?“, frage ich ihn. Eben hatte er sich auf dem Schlitten noch kopfüber den Berg herabgestürzt. Jetzt blickt er ins Leere. „Das hat doch alles keinen Sinn“, sagt er mit einer Schwere in der Stimme, die aus meinem Erstklässler einen kettenrauchenden Intellektuellen der Nouvelle Vague machte. „Wenn ich da hochlaufe, fahre ich doch wieder runter. Warum soll ich das? Bleibe ich doch gleich hier.“

Es ist einer dieser Momente, wo man als Vater nicht helfen, sondern nur trösten kann. Tatsächlich – welchen Sinn macht es, sich schwitzend den Berg im Schnee hochzuquälen, nur um ihn wieder herunterzusausen? (Vom Spaß, den Jonas zwei Stunden lang hatte, jetzt mal abgesehen). Schwermütig stapft mein Sohn nach Hause. Die Stimmung wird auch nicht besser, als ich ihm aufzähle, was man alles macht, nur, um den Effekt gleich wieder verschwinden zu sehen: dreimal am Tag essen. Tisch decken. Geschirr spülen. Aufs Klo gehen. Zähne bürsten. Kinder anziehen. Kinder ausziehen. Kinder umziehen. Als wir zu Hause ankommen, ist Jonas richtig brummig. „Was ist denn los?“, will Anna wissen. „Papa hat mir erklärt, dass alles sinnlos ist“, sagt mein Sohn. Das habe ich selbstverständlich nicht getan. Aber ein bisschen hat mich der Blues doch gepackt. Was soll das Ganze? Kaum lässt man sich von der Stiefmutter die Schwiegermütterchen auf den Balkon pflanzen, rafft der Nachtfrost im Mai sie hinweg. Kaum schlafen die Kinder nach drei harten Wochen einmal die Nacht durch, beginnt am Samstagmorgen um sieben in der Wohnung über uns der Dielenschleifer mit seiner infernalischen Arbeit. Kaum hat Baby Stan gelernt, sich nicht an jeder Ecke des Esstisches ein blaues Auge zu holen, stürzt er sich rückwärts von seinem Kinderstuhl auf den Küchenboden.

„Man darf einfach nicht durchatmen“, sagt Anna, als ich ihr abends von meiner Sinnkrise berichte. „Sobald man nämlich meint, jetzt läuft gerade alles gut – zack, schlägt das Schicksal zu.“ Ihr Trick gegen das Schicksal: Immer etwas in der Hinterhand zu haben, was gar nicht funktioniert. Und ich habe mich schon gewundert, warum die Waschmaschine beim Schleudern dauernd so rasselt.

Aber: Kann das ein Ausweg sein? Aus Angst vor dem Schicksal auf Knien durchs Leben krauchen? Und die Wäsche nicht zu schleudern? Hat es nicht einen tieferen Sinn, regelmäßig zu essen, die Fenster zu putzen und dann und wann dem Jüngsten die Windeln zu wechseln? Ist das alles umsonst? Nur weil es gleich wieder losgeht?

Atmen ist ja auch nicht vergeblich. Ich raffe mich auf. In der Küche beseitige ich die Trümmer vom Abendbrot. Räume den Tisch ab, leere die Spülmaschine und befülle sie gleich wieder. Wische den Tisch, fege den Boden wie heute schon zweimal und räume die Schüsseln wieder in den Schrank. Im Bad kommen die Kindersachen nach dem Schnüffeltest auf den Stapel „wiederverwendbar“ oder in den Wäschekorb. Ich befreie die Badewanne von der Sandkruste und räume die Spritzfische in ihr Aquarium. Wische die Reste der Zahnpasta vom Spiegel und lasse den Sand aus Tinas Hosentaschen in die Kloschüssel rieseln. Ich hänge Wäsche auf den Kleiderständer und stopfe die nächste Fuhre in die Trommel.

So weit alles fertig, 21.13 Uhr. Feierabend. Ich atme durch.

Das war ein Fehler.

Im Flur geht das Licht an. Tina steht da mit nasser Hose. Eingepullert. Umziehen, Bett abziehen, neues Bettzeug. Kaum liegt sie, kreischt Baby Stan.

Der Stein rollt vom Gipfel des Berges nach unten. Sisyphos dreht sich um und geht ihm nach. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Fragen zu Sisyphos? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN