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Archiv-Artikel

BERLINER ZEIT VERSCHWINDET, AUCH WENN MAN BLOSS DAMIT BESCHÄFTIGT IST, ETWAS TUN ZU WOLLEN Wir brauchen eine Zeitmaschine

VON TABEA KÖBLER

Überall in Berlin sitzen nachts Unentschlossene neben Gemütlichen auf den Bänken vor dem Späti. Bierzeltgarnituren werden zum heimeligen Ort für alle, die der Überfluss an Möglichkeiten dazu geführt hat, lieber gar nicht erst loszuziehen. Freitagabend setzen wir uns dazu. Schließlich sind wir keine Berliner und müssen erst mal ankommen.

Am Samstagabend umgehen wir die Späti-Bank in dem irrwitzigen Glauben, Spontaneität könne eigentlich auch einmal zielführend sein. Schließlich gibt es hier an jeder Ecke irgendetwas, da müssen richtungsweisende Vorlieben, Freunde und Smartphones doch helfen.

Die Neue Nationalgalerie zeigt in diesen Nächten Otto Pienes Dia-Performance „The Proliferation of the Sun“ von 1967. Auf riesigen Leinwänden flackern psychedelische Farbspiele und folgen den Anweisungen einer Stimme aus dem Off. Menschliche Silhouetten verschmelzen im Halbdunkel mit den schwarzen Sitzsäcken, auf denen sie liegen, alles versinkt erstarrt zwischen hektischer Bewegung in tiefer Meditation.

Das Smartphone ist nicht allwissend

Der Schritt hinaus in den Nieselregen wirft uns sehr unsanft in die Realität zurück, und schon wieder müssen wir entscheiden, wohin. „Gibt es die Bar 25 noch?“ Nein, das ist schon etwas länger her. „KaterHolzig war doch immer prima!“ Stimmt, gibt es auch nicht mehr. Das heißt jetzt Kater Blau, und das Smartphone lädt die Programmseite nicht.

Im Zodiak Free Arts Lab zwischen ewigen Krautrockimprovisationen sitzen, das wäre es jetzt. Aber es ist 2014, nicht 1967. Das Smartphone piepst und ruft ins Fuchs und Elster zum Hermannplatz. Wie zur Bestätigung rennt ein Stadtfuchs über die Potsdamer Straße und weist in Richtung U-Bahn. Dort angekommen wiederholt sich das Piepsen: „Das Fuchs und Elster ist schon zu. Wir gehen schlafen.“ Mit dieser Nachricht verabschiedet sich auch das Smartphone.

Und dann stehen wir da, am Potsdamer Platz, wo die Stadt nachts niemanden glauben lässt, dass sie Leben und Trubel zu jeder Stunde kennt, und fragen uns wiederholt, wohin. Hilfe, Berlin! Wir brauchen eine Zeitmaschine! Wir hechten der Gegenwart hinterher, und ihre Mittel führen uns nicht in die Zukunft. Statt der Zeitmaschine findet sich eine Bar und kommt dieser erstaunlich nahe. An schummrig beleuchteten Tresen laufen die Uhren mit jedem Schluck schneller. Plötzlich ist es sechs. Berliner Zeit verschwindet auch, wenn man bloß damit beschäftigt ist, etwas tun zu wollen.

Sonntagabend spielt Thurston Moore im Lido. Vor der Tür ballt sich eine Schlange kartenloser Konzertanwärter. Unser Versuch, mit dem einen vorhandenen Ticket vorzugehen und die Situation zu erforschen, scheitert völlig: Ehe wir uns versehen, ist einer drinnen, darf nicht mehr hinaus und der andere nicht hinein. Gegen die abweisende Unfreundlichkeit des Personals kommt kein Argument an.

So kommt es, dass ich auf dem Sonntagskonzert allein mürrisch vor der Bühne stehe. Die epischen Flächen der Vorband entfalten zwischen den lautstarken Unterhaltungen im Publikums höchstens noch Beiläufigkeit. Thurston Moore betritt die Bühne mit Feedbacks und Gitarrenwänden, seiner urtypischen Formensprache. Natürlich ist das nicht mehr annähernd Sonic Youth, und selbst wenn Schlagzeuger Steve Shelley wieder dabei ist nicht. Moore ist auch nicht mehr Mitte zwanzig. Dabei klingen die neuen Stücke vom kommenden Album „The Best Day“, die hier ihre ersten Hörer finden, mit Anwandlungen von ungestümem Collegepunk im Gesang, im Grunde für heutige Ohren vielleicht jünger als manches, was er damals gemacht hat.

Neben mir wünschen sich einige sehr, dass sich die Band auf der Bühne in Sonic Youth verwandelt. Ich bin versöhnt. Irgendwie rennen doch alle irgendetwas hinterher.