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Archiv-Artikel

BERLINER POPKRITIKER IN DER VOLLBARTDÄMMERUNG Der alte Fusel im Gesicht

VON ANDREAS HARTMANN

Es ist kein ganz neues Phänomen, dass sich ein Popfan seinem Lieblingsstar anverwandelt. Während der Beatlemania trug jeder unter 23 einen Pilzkopf und wer heute zu einem Konzert von Andreas Gabalier rennt, zwängt sich vorher in die Lederhose, auch wenn er darin noch so lächerlich aussehen mag. Der Lookalike-Wettbewerb, der beim Konzert der US-Drone-Band Earth bei deren Auftritt am Wochenende in der Volksbühne veranstaltet wurde, war dann aber doch einigermaßen überraschend. Earth, muss man wissen, sind eine ehemals ausschließlich in Super-Auskennerkreisen legendäre Gitarren-Drone-Combo, die in ihrem ersten Leben in den ganz frühen Neunzigern ziemlich erfolglos war, trotz prominenter Fürsprecher wie Kurt Cobain und den Typen, die später mit den allseits gefeierten SunnO))) eine dezidierte Earth-Tribute-Band gründen sollten.

Irgendwann verschwand der Kopf von Earth, Dylan Carlson, in einem tiefen Drogenloch, aus dem er erst nach mehreren Jahren zurückfand. Inzwischen scheint der Mann aber regelmäßig Frühsport zu treiben, sich maximal ausgewogen zu ernähren und auch sonst alles im Griff zu haben, denn er veröffentlicht im zweiten Leben seiner Band ein Album nach dem anderen. Dylan Carlson ist nun auch eine echte Marke. Typ Waldschrat mit Drogenvergangenheit, der mal aussieht wie ein Serienkiller, mal wie direkt aus einer von HBO produzierten Westernserie entlaufen. Egal, in welcher Fasson gerade sein Haupthaar ist, immer trägt er dazu einen mächtigen Vollbart. Und als er nun mit Earth in der rappelvollen Volksbühne auftrat, trug eben auch jeder zweite unter den männlichen Konzertbesuchern Wildwuchs im Gesicht. Der Vollbart ist in Berlin nun also auch bei alternden Bewunderern der letzten Rock-’n’-Roll-Outlaws angekommen. Über mächtige Gesichtsbehaarung als aktuelle Modeerscheinung ist ja eigentlich schon sehr viel geredet worden, und sämtliche Witze über Kai Diekmann, der im Silicon Valley den Rasierer verlegt hatte, sind auserzählt. Der Vollbart gilt bekanntlich in Hipster- und Start-up-Kreisen als Ausdruck der eigenen Unangepasstheit. Inzwischen aber scheint er auch in etwas anderen Kreisen en vogue zu sein. Berlins Popkritikerkaste etwa, bei Earth zum großen Teil zugegen, liebt es nun auch buschig im Gesicht. Eigentlich verabscheut diese Spezies, im Normalfall Männer über 40, den handelsüblichen Hipster. Dass man nun jedoch selber aussieht wie einer, liegt eben an Leuten wie Dylan Carlson oder auch Warren Ellis, einem australischen Kumpel von Nick Cave mit ähnlichem Outlaw-Image wie Carlson. Kai Dieckmann in Amerika, junge Hipster, alt gewordene Hipster, alle tragen sie jetzt Vollbart, womit man langsam sagen kann, der Fusel im Gesicht, ob bereits angegraut oder nicht, hat inzwischen rein gar nichts mehr zu bedeuten. Und bei einem Konzert wie dem von Earth fällt man eher auf, wenn man sich morgens einfach mal wieder rasiert hat. Das Konzert selbst war übrigens recht öde. Kennst du eines dieser instrumentalen Stücke von Earth, kennst du alle. Ziemlich einschläfernd. Auch wenn die Vollbartträger das natürlich ganz anders sehen.