BERLIN IST EINE DORFKNEIPE : Missverständnis
Die Annahme, Berlin sei eine Metropole, beruht auf einem großen Missverständnis. Mein Freund, ein sogenannter Zugezogener, scheitert auch in seinem zehnten Berliner Jahr bisweilen an den hiesigen Kommunikationscodes: Neulich Morgen wollte er seine Zeitung mit einem Zwanzig-Euro-Schein bezahlen. „‚Hamses nich kleina?‘“, fragte die Verkäuferin. ‚Nein, tut mir leid‘, antwortete ich ruhig und höflich“, sagt er. „Sie fühlte sich bemüßigt, mich mit einem weiteren Kommentar zu beglücken: ‚Na, Freunde wernwa so nich.‘ Daraufhin ich, immer noch höflich, aber bestimmt, hochdeutsch: ‚Ach wissen Sie, das ist mir scheißegal.‘ Labert mich doch tatsächlich von hinten ein 50-jähriger Natürlich-auch-Berliner an: ‚Hörnsemal, was sind das für Maniern?!‘ Ich hätte ihn am liebsten mit meiner Faust bekannt gemacht. Stattdessen sah ich vor meinem inneren Auge K. Kinski im Umgang mit schlecht erzogenem Publikum in ‚Jesus Christus Erlöser‘ und knurrte so cool und unheilverheißend, wie das sonst eben nur Kinski kann: ‚Halt’s Maul.‘“
Ich habe lange gebraucht, um meinem Freund zu erklären, dass die Verkäuferin ihm quasi eine Liebeserklärung gemacht hat. „Sie wollte deine Freundin sein, verstehste“, hab ich gesagt, „und die Abfuhr, die du ihr erteilt hast, veranlasste den Mann hinter dir, die Ehre der Verschmähten zu verteidigen.“ Berlin ist die Kneipe auf dem verlassenen Marktplatz eines Kaffs namens Brandenburg. Manchmal tanzen wir auf den Tischen, manchmal liegen wir unten drunter, jeder war schon mal mit jedem im Bett und Weihnachten ist Lokalrunde. Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich verstanden hat. Und man muss hinzufügen, dass mein Freund gebürtiger Norddeutscher ist. Die lassen das Kommunizieren bekanntlich sowieso am liebsten bleiben, vor allem morgens, das hab ich gelernt. Aber woher soll die Verkäuferin das wissen? LEA STREISAND