BEIM ANALYTIKER : Die Welt ist schön
Ich kam schweißgebadet an. Klar, im Sommer schwitze ich viel, beim Radfahren besonders stark, und Gegenwind ist nun mal eine der widerwärtigsten Erfindungen der Menschheit, sozusagen Natur gewordene Renitenz. Nach der Jacke entledigte ich mich auch des Hemds, nachdem ich im kleinen Badezimmerspiegel der Praxis gesehen hatte, dass sich tellergroße Flecke auf dem Hemd breitgemacht hatten. Unter den Achseln, überm Nabel. Beim T-Shirt ging es, es war schwarz genug.
Meine Analytikerin kam aus ihrem Kämmerchen, das sie Büro nannte, und reichte mir die Hand, ihrerseits in den hellblauen Jeans der achtziger Jahre und irgendeinem Plunderpullover gekleidet. Eine mögliche Übertragung stand da natürlich unter keinem guten Stern. Ich aber war auf der Couch erst mal sicher – unter dem Kopf eine Serviette, unter den Füßen eine Extradecke. Die Couch hatte eine orangefarbene Aura und stammte wahrscheinlich aus einem schwedischen Schnellmöbelhaus. Ich seufzte und gab mich dem Moment hin. Der Trockenperiode. Fünfzig Minuten ruhig dahinplätscherndes Glück.
Als die Stunde rum war, konnte ich das Hemd wieder anziehen. Es sah ordentlich aus. Ich dachte über den Befehl „Bitte machen Sie sich frei“ nach, der in anderen Praxen und Situationen ausgesprochen wird. Die Analytikerin lächelte, begleitete mich zur Tür und verabschiedete mich mit ausgestreckter Hand. Über Kleidung hatten wir noch nie gesprochen. Draußen regnete es. Pfützen bildeten sich. Während ich auf dem Fahrradsattel weiter über Kleidungsvorschriften und die Mode nachdachte, über die windigen Anforderungen des Aprilwetters und über den Stil meines leider ungefähr fünfzehn Jahre zu jungen Schwarms, den ein Freund kürzlich als „hip-bieder“ bezeichnete, riss der Himmel auf, die Sonne zeigte sich, und das Leben war schön.
RENÉ HAMANN