BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Der Seufzer
Niemand schien zu Zeiten der DDR so tief in die Seele meiner Mutter blicken zu können wie ein norwegischer Maler
Es ist verdammt hart für ein Kind, die eigene Mutter leiden zu sehen. Meine Mutti hat zu DDR-Zeiten sehr gelitten. Nein, keinen Hunger und keinen Durst und wegen mir nur bedingt – es hat ihr zu schaffen gemacht, dass sie nicht nach Norwegen durfte. Seit ich denken kann, bewundert sie den norwegischen Maler Edward Munch und träumt davon, nach Oslo ins Munch-Museum zu fahren. Noch heute habe ich ihre Seufzer im Ohr.
Das Leiden hat nun endlich ein Ende. Am kommenden Samstag wird Mutti 65, und Gott sei Dank ist sie noch rüstig genug für eine mehrtägige Reise ins kapitalistische Ausland. Weil ich ihr als Tochter so einiges zu verdanken habe, schenke ich ihr eine Reise nach Oslo und begleite sie an den Ort ihrer Träume.
Es muss vor über 30 Jahren gewesen sein, dass Mutti ihre Liebe zu einem anderen Mann als ihrem eigenen entdeckte. Schuld war natürlich der Klassenfeind. Genauer gesagt Tante Lisbeth, die Schwester der Mutter meines Vaters, die im Westen lebte. Tante Lisbeth machte sich regelmäßig auf den Weg nach Sachsen, um Oma Gertrud zu besuchen. Mein Vater kutschierte sie jedes Mal mit dem Wartburg durch die Gegend und schenkte ihr Amiga-Schallplatten. Tante Lisbeth wollte sich nach einer Reise, die ihr besonders gut gefallen haben muss, revanchieren und fragte meine Eltern, ob sie einen speziellen Wunsch hätten.
Kunstbeflissen wie sie sind, wollten sie weder Kaffee noch Feinstrumpfhosen, sondern ein Lexikon der modernen Kunst. Tante Lisbeth schickte ihnen so ein Lexikon. Darin sah Mutti das Bild „Der Schrei“ und andere Werke von Edward Munch. Ab diesem Moment schwärmte sie von dem „Seelenausdruck“ des norwegischen Malers. Bald kam der Moment, da wollte sie sich nicht mehr mit den kleinen Bildern im Lexikon zufrieden geben. Sie wollte ein größeres. Kein Original, aber wenigstens ein Plakat.
Also schrieb sie einen Brief nach Norwegen. Weil die Adresse des Museums nicht im Telefonbuch stand, adressierte ihn meine clevere Mutti an „Munch-Museum Oslo“. Aus Unkenntnis der englischen Sprache schrieb sie in Deutsch sinngemäß Folgendes: „Sie werden sich wundern, Post von mir zu bekommen. Ich bin ein großer Verehrer von Edward Munch und kann leider nicht in Ihr Museum kommen. Deshalb würde ich mich sehr über ein Plakat freuen.“
Kurze Zeit später brachte der Briefträger eine große Papprolle. Das Munch-Museum hatte tatsächlich ein Plakat geschickt! Mutti kriegte sich gar nicht mehr ein, als sie das Bild „Mädchen auf der Brücke“ in den Händen hielt. Wieder seufzte sie. Diesmal vor Freude.
Das Plakat half ihr, die Jahre bis zum Mauerfall zu überstehen. Seltsamerweise ist sie seit In-Kraft-Treten der Reisefreiheit vor fünfzehn Jahren noch nicht nach Oslo gefahren, um sich die Bilder im Original anzusehen. Immer war irgendwas wichtiger als ihr Traum. Die Arbeit, der Kredit für das Haus, eine Zahnkrone, wie das so ist.
Doch am 21. Juli nächsten Jahres werden wir im Flieger nach Oslo sitzen. Leider geht es nicht eher. Denn das Munch Museum ist bis Juni geschlossen. Seit im Sommer maskierte Täter die Bilder „Der Schrei“ und „Madonna“ geklaut haben, wird das Sicherheitssystem modernisiert. Ich gebe zu, dass ich Mutti verdächtigt hatte, als ich von dem Diebstahl hörte. Doch sie hat Sachsen nachweislich in diesem Sommer nicht verlassen. Papi kommt als Dieb auch nicht in Frage. Er will Mutti zum Geburtstag die Reparatur ihres Autos schenken und keinen Munch.
Bevor ich die Flüge gebucht habe, wollte ich mich vergewissern, dass das Museum im Juni tatsächlich wieder offen ist. Ich schrieb eine Mail an Gunnar Sørensen, den Direktor höchstpersönlich. Er teilte mir mit, was ich schon wusste: dass die Wiedereröffnung für den Juni geplant ist. Also habe ich eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen, um zur Not günstig umbuchen zu können. Denn wenn Mutti in Oslo vor einem geschlossenen Museum stehen würde, dann würde sie wieder seufzen – aus Leid, so wie früher. Das könnte ich nicht ertragen.
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