BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Ehrlich währt nicht immer am längsten
Schulden sind überhaupt kein Problem – wenn man, wie ich, seine DDR-Geldkarte noch besitzt
„Hallo, Frau Bollwahn. Ich möchte mit Ihnen über Ihren Kontostand sprechen“, flötete neulich eine Mitarbeiterin der Berliner Sparkasse ins Telefon. „Aber gern“, flötete ich zurück. Seit Ewigkeiten hatte ich auf meinen Kontoauszügen nicht mehr die schönen fünf Buchstaben „haben“ gelesen, sondern dieses hässliche Wort, das mit „s“ anfängt und einen Buchstaben weniger hat. Jahrelang hatte ich über meine Verhältnisse gelebt – dank eines großzügigen Dispositionskredites ebendieses Geldinstituts, der in keinem Verhältnis zu meinem bescheidenen Einkommen steht.
Ich bin ohne Dispositionskredit aufgewachsen. In der DDR konnte ich nur das ausgeben, was ich auf dem Konto hatte, nicht einen Pfennig mehr. Aber das war okay. Die Möglichkeiten zum Geldausgeben hielten sich ohnehin in Grenzen. Auch wenn man wie ich zu dem erlauchten Kreis derjenigen gehörte, die eine Geldkarte hatten.
Das waren Plastikkarten von der Größe wie auch die heutigen Geldkarten. Das war es dann auch schon an Gemeinsamkeiten. Auf der Vorderseite stand oben rechts in Großbuchstaben „GELDKARTE“. Daneben prangte das Wappen der DDR und die Aufschrift „Geld- und Kreditinstitute der DDR“. In veralteter Schreibmaschinenschrift folgten mein Name und meine „PKZ“, meine Personenkennzahl. Das Schönste an der Vorderseite war natürlich das Passbild von mir. Weil uns im Osten immer gesagt wurde, wo es langgeht, markierte auf der Rückseite ein dicker Pfeil die „Einschubrichtung“. Und für Bürger, die Böses im Schilde führten, war vorsichtshalber eine Warnung aufgedruckt: „Fälschungen und Betrug werden strafrechtlich verfolgt!“
Ich war mächtig stolz auf meine Geldkarte. Auch wenn die wenigen Automaten, die es in Leipzig gab, eher selten funktionierten. Bis die Mauer fiel. Da erwachten selbst die aus ihrem Dornröschenschlaf. Bei jedem Leipzigbesuch, bei dem ich meine Geldkarte in entsprechender Einschubrichtung in einen Automaten schob, bekam ich Geld. Im Juni 1990, einen Monat vor der Währungsunion, fuhr ich in die Sachsenmetropole, um mein Konto aufzulösen. Vom Gefühl her dachte ich, dass ich plus minus null auf dem Konto haben müsste, eine 2:1-Umstellung also keinen Sinn machen würde.
Doch ich hatte mich geirrt. Als mir die Dame am Schalter meine Kontoauszüge brachte, flüsterte sie mir in breitestem Sächsisch zu: „Sie haben Ihr Konto ja um 700 Mark überzogen!“ Auch ich bekam einen Schreck, von dem ich mich aber schnell erholte. „Ach so, ich wollte den Verlust meiner Geldkarte melden.“ Weil die Frau nicht wusste, was in so einem Fall zu tun ist, telefonierte sie mit ihrem Chef. Was danach passierte, werde ich nie vergessen. Sie zerriss meine Kontoauszüge vor meinen Augen, strahlte mich an und verkündete: „Es hat sich erledigt.“ Noch nie klang die sächsische Sprache so gewinnend in meinen Ohren.
Ohne mir etwas Schriftliches über die Auflösung meines Kontos und den Verlust der Geldkarte geben zu lassen, spazierte ich in Siegerpose aus der Sparkasse. Direkt zum nächsten Geldautomaten. Mit der gestohlen gemeldeten Geldkarte hob ich 500 Ostmark ab. Quasi als Schmerzensgeld für das erlittene Leid. Erst als ich das Geld ausgegeben hatte, hatte sich für mich das Kapitel DDR endgültig erlädschd.
Aber nicht für die Sparkasse. Vier Jahre später bekam ich ein Einschreiben aus der Leipziger Tieflandsbucht. Für das Geldinstitut existierte mein Konto noch immer. Mit Überziehungs- und Sollzinsen wollten die 912,94 Mark von mir. Nicht Ostmark, sondern DM, also 1:1. Ich fand das eine Unverschämtheit und nahm mir einen Anwalt. Eine fähige Kraft, wie sich herausstellte. Nicht einen Pfennig musste ich zurückzahlen.
Doch diese Raubritterzeiten sind leider vorbei. Jetzt habe ich einen „Allzweckkredit“ zur Umschuldung meines im Westen eröffneten Kontos an der Backe. Bis 2011 muss ich der Sparkasse monatlich eine Rate von 134,60 Euro zurückzahlen. Über diese Schmach hilft mir die Genugtuung hinweg. Die Genugtuung darüber, dass ich noch heute meine DDR-Geldkarte habe.
Fragen zum Dispo? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE