BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Das Leben ist ein Experiment
Beim Feldversuch DDR war ich unfreiwilliges Versuchskaninchen. Seitdem will ich nichts mehr von Placebos wissen
Experimente sind so eine Sache. Sie bergen ungeahnte Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Einerseits. Andererseits können sie aber auch gewaltig in die Hose gehen. Deshalb sollte die Teilnahme prinzipiell freiwillig sein. In der DDR war das leider nicht so. Da hat mich niemand gefragt, ob ich mitmachen will bei dem groß angelegten Feldversuch auf dem Boden des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates. Allein mein Geburtsort Borna machte mich automatisch zu einem der etwa 17 Millionen Versuchskaninchen für ein sozialistisches Paradies. Über Nebenwirkungen wurde ich ebenso wenig aufgeklärt wie über Langzeitfolgen oder mögliche Abhängigkeiten.
Glücklicherweise habe ich das Experiment ohne bleibende Schäden überlebt und auch die Lust am Experimentieren nicht verloren. Seit dem Mauerfall habe ich allerhand ausprobiert, geschluckt und mir anderweitig zugeführt – freiwillig. Doch das Herumexperimentieren hat seine Grenzen.
Es begann mit einer Überweisung in ein Schlaflabor. Oft wache ich morgens um vier oder fünf auf und kann nicht mehr einschlafen. Um herauszufinden, ob mich die gesellschaftlichen Umbrüche um den Schlaf bringen oder irgendetwas in meinem Körper nicht stimmt, wollte ich mich zwei Nächte lang verkabeln lassen und unter ärztlicher Überwachung schlafen. Dazu musste ich eine Sprechstunde eines Schlafmediziners im ehemals führenden Krankenhaus der ehemaligen DDR-Hauptstadt konsultieren. Weil jeder dritte Deutsche unter Schlafproblemen leidet, saß ich einem überarbeiteten und angespannten Arzt gegenüber.
Nach Durchsicht meiner Unterlagen huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. „Sie wären geeignet.“ Ich lächelte nicht zurück. „Wofür geeignet?“ In einem Affenzahn erörterte er mir eine Alternative zum Schlaflabor: ein sechswöchiges Experiment mit einem Hormon namens Melatonin, das an der Regulierung des Tag-Nacht-Rhythmus beteiligt ist, in den USA als Nahrungsergänzungsmittel reißenden Absatz findet, bei Schichtarbeitern und Jetlag Erfolge zeigt und überhaupt.
Ich verstand nur Bahnhof und wunderte mich, warum das Zeug, wenn es solch eine Wunderwaffe ist, nicht längst einem Pharmaunternehmen Riesengewinne beschert. Als der Arzt die Skepsis in meinem Gesicht bemerkte, blickte er über den Rand seiner Brille, die auf dem alleräußersten Ende seiner Nasenspitze balancierte. Statt zu versuchen, mich mit fundierten Informationen aufzuklären, nahm seine Stimme einen drohenden Tonfall an. „Sie können davon ausgehen, dass man sich nie wieder so intensiv mit Ihrem Schlaf beschäftigen wird.“
Ich lehnte dankend ab und ließ mir einen normalen Termin im Schlaflabor geben. Doch meine Neugierde war geweckt. Ich wollte wissen, auf was ich mich eingelassen hätte, und fand heraus, dass dieses Hormon eine körpereigene Substanz ist, die in der Zirbeldrüse gebildet wird. Obwohl Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht ausreichend erforscht sind, schlucken viele Amerikaner mit Begeisterung das Zeug, weil sie glauben, es helfe gegen das Altern, gegen Krebs, gegen Aids, gegen Parkinson. Auch in Deutschland ist das Interesse der Ärzte groß. Doch weil hier andere Bestimmungen gelten, braucht es Patientenstudien.
Sollte ich mich vielleicht doch in den Dienst der Wissenschaft stellen? Schließlich geht es um die Erforschung des menschlichen Gehirns. Da ist der Kommunismus ein Fliegenschiss dagegen. Außerdem besteht theoretisch die Möglichkeit, dass ich besser schlafe. Was aber, wenn ich zu gut schlafe und nie wieder aufwache? Und was, wenn ich statt des Hormons Placebos schlucke?
Verarschen kann ich mich alleine. Placebos, diese Medikamente ohne Wirkstoff, die trotzdem wirken. Nee, nee, das hatte ich lange genug. Als ich herausfand, dass der Schlafmediziner zu DDR-Zeiten an einem Institut in Moskau studiert hat, war ich mir endgültig sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Freiwillig werde ich nicht zum Versuchskaninchen.
Fragen zu Placebos? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN