Ausgehen und rumstehen von Katrin Bettina Müller: Einverleiben und gut kauen
Das Wochenende begann am Freitag mit Gemüseschnibbeln und Suppekochen. Ein Besuch bei meiner Freundin U. stand an, und weil sie schon so oft für uns beide gekocht hat, wollte diesmal ich das Essen mitbringen. Also alles in einen Korb gepackt, Dessert nicht vergessen, und losgestiefelt. Ein bisschen wie Rotkäppchen, aber ohne Wolf. Nach dem Essen haben wir gekniffelt, in U.s Variante, sehr herausfordend. Würfeln kann müde machen, zumindest uns. So war der Abend zu Ende, nachdem jede einmal Zweite und einmal Erste geworden war.
Von der Winterspaziergangsrunde, die sich zur Zeit der Pandemie gegründet hatte, um samstags zwei Stunden durch die verschiedenen Berliner Kieze zu wandern, ist nicht viel geblieben. Ein versprengter Rest aber wurde von einer Teilnehmerin nach Wilmersdorf geführt zu einer expressionistischen Kirche am Hohenzollerndamm. Außen wirkt ihre Backsteinfassade aufgeraut, dunkel und mächtig, innen ist das steile Kirchenschiff überraschend hell und himmelblau. Wir quetschten uns in eine der Kirchenbänke, kurz vor zwölf Uhr wurde es immer voller, denn inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass es hier Samstagmittag Chorkonzerte gibt, kostenlos für das Publikum. „NoonSong“ nennt sich die Reihe mit spiritueller Musik, diesmal spielten der sirventes berlin Chor und die lautten compagney Berlin Vespermusik des barocken Komponisten Antonio Caldara. Ziemlich dramatisch und mit vielen ergreifenden Solopartien. Überraschend kommt dieser Konzertbesuch wie ein unverhofftes Geschenk. Ach Berlin, deine Künstler geben ganz schön viel.
C., eine der Konzertbesucherinnen, treffe ich am späten Nachmittag wieder, in Neukölln bei einer Ausstellungseröffnung in der Königlichen Backstube. Im Richard-Kiez liegt diese Bäckerei, in der Handwerk und Kunst eine seltene Verbindung eingehen. Der Blick in die Backstube ist offen, vormittags geben die Bäcker:innen ihre Performance. Im Verkaufsraum ist eine Wand der bildenden Kunst vorbehalten. „Brot kauen“ heißt die jetzige Wandarbeit von Juliane Laitzsch, es ist die 21. Ausstellung, die Kati Gausmann, Künstlerin und Partnerin des Bäckermeisters Michael Köser, hier initiert hat.Gut kauen ist wichtig für die Entfaltung des Geschmacks.
Der kleine Vorraum wird immer voller, die Luft dampft von der Regennässe, die die Besucher von außen hereintragen, bald kauen alle Zwiebelkuchen, schieben sich vorsichtig aneinander vorbei und singen „Happy Birthday“, denn Geburtstag hat die Künstlerin auch. Auf einer mit farbigen Punkten bemalten Wand hängen Juliane Laitzschs Aquarellzeichnungen, deren amorphe Formen etwas Lebendiges ausstrahlen, einen Prozess der Verwandlung, von kleinsten Zellen vielleicht? Tatsächlich hat Juliane Laitzsch, wie wir aus einer kurzen Rede von Kati Gausmann erfahren, bei etwas Realem angesetzt, der Fotografie einer Bauchspeicheldrüse, die sich so aber, vielfach vergrößert, zu einem eigenen, farbigen Kosmos ausweitet.
Am Sonntag schließe ich mich meinen Nachbarn an, die im Salon des Beginenhofs in Kreuzberg, einem Frauenwohnprojekt, die Eröffnung der Ausstellung „Abgelegt“ von Sophia Muriel besuchen. Es sind textile Objekte, die nicht nur mit Erinnerungen an die einstigen Träger der Kleidungsstücke verbunden sind, sondern jetzt als Solisten auch zu virtuosen Aufführungen neigen. Ein weißes Hemd scheint im freien Flug, als könnte es weit durch die Luft taumeln, und muss sich doch eng an die Wand schmiegen. Bei einem Objekt in Rot flattern Rocksäume und Jackenärmel aufwärts, ein Pas de Deux, zum Solo verschmolzen. Und dann sind da noch kleine Fotografien, von weggeworfenen Kleidungsstücken auf den Straßen, steif gefroren in der Winterkälte, wie ein Gruß an die Stadt und ihre unermüdlichen Vorgänge des Einverleibens und Ausscheidens.
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